Kletter-Eldorado im hohen Norden

Die Inselgruppe der Lofoten im Norden Norwegens bietet (fast) alles, was das Kletter-Herz begehrt. Der Granit ist von bester Qualität, die Gegend unberührt und doch gut erschlossen. Zum rauen Charme passt, dass hier fast überall selbst gesichert werden muss.

Andrea Kucera
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Die Besteigung der Svolværgeita oberhalb von Svolvær wird gemäss Kletter-Ehrenkodex mit einem Sprung vom einen zum andern Gipfel abgeschlossen. (Bild: Kristin Folsland Olsen)

Die Besteigung der Svolværgeita oberhalb von Svolvær wird gemäss Kletter-Ehrenkodex mit einem Sprung vom einen zum andern Gipfel abgeschlossen. (Bild: Kristin Folsland Olsen)

Obwohl die Uhr an meinem Handgelenk bereits sechs Uhr abends anzeigt, steht die Sonne noch immer hoch am Himmel. Ich befinde mich rund 80 Meter über dem Meeresspiegel in einer Felswand auf der Inselgruppe der Lofoten im Norden Norwegens. Es ist ein Sonntag Ende Juli, und gemeinsam mit meinem Kletterpartner habe ich mir die Mehrseillängenroute Gandalf im fünften Schwierigkeitsgrad vorgenommen – ein Klassiker auf den Lofoten, die sich in den letzten Jahren zu einem Kletter-Eldorado gemausert haben.

Sonnenbrille um Mitternacht

Die ersten zwei Seillängen sind bereits hinter uns, nun folgen zwei weitere Seillängen in bestem, solidem Granit. Mein Partner ist längst hinter dem nächsten Felsvorsprung verschwunden, so dass ich mich beim Sichern auf den Seilzug verlassen muss. Alle paar Sekunden spüre ich ein Ziehen – ein Zeichen, dass er ein Stück weiter hochgestiegen ist.

Um nichts in der Welt möchte ich gerade woanders ein: Türkisfarben liegt der Atlantische Ozean unter mir, und am Horizont zeichnet sich das norwegische Festland ab. In der Ferne kann ich die Umrisse eines Kreuzfahrtschiffes erkennen, das Richtung Norden unterwegs ist. Vielleicht ist es die «Hurtigruten», das bekannte Postschiff, das in fünfeinhalb Tagen der gesamten norwegischen Küste entlangfährt. Ich stelle mir vor, wie die Gäste auf Deck ihren Apéro serviert bekommen und sich dabei an der imposanten, bergigen Kulisse der Lofoten sattsehen. In Ufernähe bahnen sich gerade drei Kanus einen Weg durch die vielen Schären, die den Gestaden der Lofoten vorgelagert sind.

Die Rufe einer Seilschaft unter mir bringen mich in die Wirklichkeit zurück. «Safe, Sandy», schallt es durch die Luft, dann ist es wieder still. Der Kletterer hat wohl den nächsten Stand erreicht. Beim Einstieg macht sich derweil eine weitere Dreierseilschaft bereit, in die Route einzusteigen, und für einen kurzen Moment denke ich: «Die sind aber reichlich spät dran.» Schliesslich bin ich als Mitteleuropäerin darauf eingestellt, dass in absehbarer Zeit die Sonne untergehen wird. Knapp 200 Kilometer nördlich des Polarkreises herrschen indes andere Bedingungen. Zwischen Anfang Mai und Anfang August wird es in diesen Breitengraden nie dunkel, und zwischen Mitte Mai und Mitte Juli geht die Sonne sogar kein einziges Mal unter. Selbst um Mitternacht ist es taghell, und ich habe mich schon dabei ertappt, um diese Uhrzeit eine Sonnenbrille zu tragen.

Das Gesamtpaket Lofoten

Für die Kletterer ist die Mitternachtssonne ein willkommener Trumpf: Dank ihr können sie rund um die Uhr ihrem Hobby frönen beziehungsweise den Tagesrhythmus den meteorologischen Bedingungen anpassen. So halten es auch die vielen Gastarbeiter vor allem aus Schweden, aber auch aus anderen Gegenden Norwegens, die hier in der Touristensaison in Restaurants oder Cafés arbeiten. Tagsüber serviere sie und nachts gehe sie klettern, erklärt uns eine Kellnerin in einem Restaurant allen Ernstes. Und fügt lachend hinzu: Schlafen könne sie im Herbst, wenn sie zurück in Schweden sei. In der Tat sehen wir während unseres einmonatigen Aufenthalts auf den Lofoten zu den unmöglichsten Uhrzeiten Leute in den Felsen herumturnen, welche die Küstenstrasse zwischen der Ortschaft Henningsvær und dem Strand von Rørvik auf der Südseite der Inselgruppe säumen.

Auf diesen sechs Kilometern schlägt das Herz der hiesigen Kletterszene: Route an Route reiht sich entlang der Strasse. Auch unser heutiges Projekt Gandalf sowie ein weiterer Klassiker namens Presten befinden sich hier. Die meisten Routen sind zwischen zwei und fünf Seillängen lang, einige aber auch bis zu 16 Seillängen. Von der Schwierigkeit her findet sich alles zwischen dem vierten und dem neunten Grad. Überragt wird das Massiv vom 943 Meter hohen Berg Vågakallen, der im Jahr 1889 erstmals bestiegen wurde. Der Legende nach ruderten damals zwei junge Fischer von der Nachbarinsel Skrova zum Fuss des Berges, bahnten sich ihren Weg durch die Südflanke bis zum Gipfel, stiegen auf dem gleichen Weg wieder ab und ruderten zurück nach Hause – die Geburtsstunde der Lofoten-Kletterei hatte geschlagen.

Es ist schwierig, deren Eigenheiten und Charme auf einen Nenner zu bringen. Es sei das Gesamtpaket, sagte uns Torbjørn Solheim, ein 29-jähriger Student aus Westnorwegen, den wir vor unserer Tour am Fuss der Felsen angetroffen haben: der Zusammenhalt unter den Kletterern, die gute Erreichbarkeit der Routen, der griffige Fels und die Vielfältigkeit der Kletterei. Solheim ist ein Kenner der Lofoten; seit fünf Jahren zieht es ihn jeden Sommer hierhin.

Potenzial für Erstbegehungen

Ein wesentlicher Aspekt der Lofoten-Kletterei ist schliesslich der alpine Charakter. Die meisten Routen sind zwar von der Strasse in wenigen Gehminuten erreichbar, doch beim Einstieg ist fertig mit Sportklettern: Es gibt weder Bohrhaken noch Beschriftungen am Felsen, an denen man sich orientieren könnte. Wer hier in eine Mehrseillängenroute einsteigt, muss also genau wissen, was er tut, und überdies seine Keile und Friends selber mitbringen. Gleichzeitig macht diese Unberührtheit den Charme der Lofoten als Kletterdestination aus. Dass die Inselgruppe nicht längst von Gipfelstürmern überrannt wird, sondern im Gegenteil noch immer ein grosses Potenzial für Erstbegehungen vorhanden ist, hängt wohl zum einen mit der langen Anreise und zum andern mit den regenreichen Sommern zusammen. Auch wir konnten mehrere Touren nicht realisieren, weil das Wetter nicht mitspielte.

Heute aber sind uns die Wettergötter zum Glück wohlgesinnt: Einige Nebelschwaden treiben träge über dem Meer, sonst ist der Himmel wolkenlos. Sorgen bereitet mir nur der Keil, den mein Partner in einem schmalen, vertikalen Spalt gesetzt hat. Inzwischen bin ich nämlich wieder dran mit Klettern, doch solange die Sicherung festsitzt, komme ich keinen Schritt weiter. Zuerst versuche ich, den Keil von Hand zu entfernen, was aber nicht gelingt. Also zücke ich mein «Nut Tool», einen Haken aus Stahl, mit dem ich besser grübeln kann. Ich müsse den Keil ein wenig zurückschieben und in verschiedene Richtungen bewegen, hatte mir mein Partner zuvor erklärt. Langsam komme ich ins Schwitzen, denn mein ganzes Gewicht hängt am linken Arm. Zum Glück gelingt es mir endlich, die Sicherung zu lösen. Hastig befestige ich Keil, Haken, Schlinge und Karabiner am Gurt und klettere weiter. Als ich schliesslich beim nächsten Stand ankomme, bin ich behängt wie ein Weihnachtsbaum – und weniger erschöpft vom Klettern als vom Entfernen der Sicherungen. Das mit dem Selber-Sichern muss ich noch etwas üben. Erst dann kann ich mir die richtig langen Touren vornehmen.