An den Felsen der maurischen Königin

Dank einigen extrem schwierigen Routen sind die Felsen von Siurana unter Spitzenkletterern kein Geheimtipp mehr. Auch weniger Ambitionierte finden an den Kalkriegeln ein breites Betätigungsfeld.

Karin Steinbach Tarnutzer
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Die Strasse ins gelobte Land der Spitzenkletterer, darüber ein kleiner Teil der Klettersektoren von Siurana. (Bild: Rainer Eder / Visualimpact)

Die Strasse ins gelobte Land der Spitzenkletterer, darüber ein kleiner Teil der Klettersektoren von Siurana. (Bild: Rainer Eder / Visualimpact)

Die Fahrt zieht sich in die Länge. 150 ermüdende Kilometer sind es von Barcelona nach Siurana, zuerst auf der Autobahn die Küste entlang, dann landeinwärts in Richtung der katalanischen Vorküstengebirge. Kurz nach Cornudella de Montsant zweigt das Strässchen ab, das hinauf in die Bergkette der Serra de Prades führt. Doch kaum tauchen nach einigen Minuten die ersten Felsmassive auf, ist alle Müdigkeit wie weggeblasen: Über einem dunkelroten Sandsteinriegel erheben sich Wände aus gelbgrauem Muschelkalk, die uns ins Schwärmen geraten lassen. Steil, zum Teil löchrig, dann wieder plattig, durch Risse, Verschneidungen und quer laufende Bänder strukturiert, lassen sie die Vorfreude auf die bevorstehenden Tage wachsen. Ein paar Haarnadelkurven weiter, wo sich das Tal zu einer Schlucht verengt und die Felsen nah an die Strasse rücken, leuchten überhängende, bis auf kleinste Leisten grifflose Wände in warmem Ocker und Orange in der Abendsonne.

Am Ende der Strasse liegt, zuoberst auf einem Felsriegel, das mittelalterliche Dorf Siurana. In 737 Meter Höhe duckt es sich wie ein Nest auf die kleine Hochfläche, eine Handvoll Steinhäuser mit kopfsteingepflasterten Gassen und nicht einmal 50 Einwohnern. Von hier schweift der Blick hinaus auf die umliegenden Hügel mit ihren unzähligen Felsabbrüchen und hinunter in das tief eingeschnittene Tal des Flusses Siurana mit seinem Stausee. Mitte der achtziger Jahre entdeckten Kletterer das enorme Potenzial dieser Gegend. An den östlich an den Ort anschliessenden Massiven richteten sie die ersten Routen ein. Während 1987 der deutschsprachige Führer, der das Gebiet erstmals vorstellte, noch 61 Touren auflistete, wuchs deren Zahl mit der zunehmenden Popularität und dem sich steigernden Schwierigkeitsniveau rasch an. Die neueste Publikation vom April 2013 spricht von nicht weniger als 1500 Routen.

Klassisch und modern

Heute gilt das Sportklettergebiet von Siurana als eines der besten Europas und ist entsprechend beliebt. Vor allem bei Kletterern, welche die oberen Schwierigkeitsgrade beherrschen: Zwischen 7b und 8c ist die Auswahl an Routen riesig, sie reicht bis zum Grad 9b. Dass es uns dorthin verschlagen hat, ist einem Zufall zu verdanken. Wir bekamen einen Kletterführer in die Hände und entdeckten, dass es auch im Bereich 6a und 6b genügend Touren gibt, um eine Ferienwoche zu füllen. Auf dem morgendlichen Zustieg in unseren ersten Klettersektor sind wir dennoch gespannt, wie es uns ergehen wird – wie hart die Routen bewertet und wie sie abgesichert sind, lässt doch in Gebieten mit generell höherer Schwierigkeit die Absicherung in leichteren Graden manchmal zu wünschen übrig.

Der Pfad, der in den Sektor «Grau dels Masets» führt, ist mit Steinmännchen markiert. Zwischen blühendem Ginster und duftenden Rosmarinbüschen geht es bergab, vorbei an vom Wasser bizarr ausgewaschenen und unterhöhlten Steinformationen, immer mit Ausblick in das Tal des Siurana. In den nächsten Tagen wird sich bestätigen, dass sich ein etwas längerer Anmarsch lohnt, denn je weiter man sich von den zentralen Sektoren entfernt, desto weniger Leute sind unterwegs, so dass man teilweise nur noch das Rauschen des Windes in den Bäumen, die zirpenden Grillen und ab und zu den Ruf eines Vogels hört. Unsere Bedenken erweisen sich als überflüssig: Auch im mittleren Schwierigkeitsbereich treffen wir ausreichend abgesicherte, lohnende Routen an, dies in einer erstaunlichen Vielfalt. Vom sechsten Grad an aufwärts finden sich klassische Linien durch Risse und Verschneidungen (und sogar durch einen Kamin) genauso wie steile Wand-, Loch- und Leistenkletterei modernen Stils.

Routen am Limit

Am Abend, zurück am Campingplatz von Siurana, ist es zunächst Zeit für eine Erfrischung. Inzwischen haben wir gelernt, dass Katalanisch und Spanisch durchaus nicht «fast dasselbe» sind, und erreichen mit einer Mischung aus Englisch und Zeichensprache, dass uns ein Panaché – ein «Demon limón» – serviert wird. Auf der Terrasse des Restaurants kommen Kletterer aus aller Welt zusammen, tauschen sich über Routen aus und darüber, welcher Sektor zu welcher Tageszeit im Schatten liegt. In den Frühlingstagen Mitte April, in denen wir unterwegs sind, wird es in sonnenbeschienenen Wänden schnell einmal zu heiss. Nicht zu sehen ist Toni Arbones, umtriebiger Betreiber des Campingplatzes und wichtiger Erschliesser. «Er ist immer beim Klettern», entschuldigt sich sein Vater, der für ihn die Geschäfte übernimmt. Der freundschaftliche Kontakt zwischen Spaniern, Franzosen, Briten, Deutschen, Finnen, Tschechen und Schweizern macht nicht zuletzt eines klar: In der internationalen Klettergemeinschaft hat jedes Niveau Platz, niemand wird nur aufgrund seiner Leistung beurteilt.

An dem Tag, an dem wir in den Sektoren «Esperó Primavera» und «El Cargol» klettern, treibt uns die Neugier noch ein Stück weiter, in den Sektor «El Pati», zu den schwierigsten Routen Siuranas, die nur wenige Wiederholungen aufweisen. Der Wandbereich hängt beeindruckend über, und es fällt schwer, sich vorzustellen, wie ein Mensch aus eigener Kraft je dort hinaufkommen soll. Alexander Huber eröffnete hier 1994 die mit 8c+ bewertete «La Rambla», die 2003 von Ramón Julián Puigblanque zu einer 9a+ verlängert wurde. Ohne Rastpunkte geht es fast 40 Meter an manchmal nur millimeterbreiten Griffen nach oben. Mit offenem Mund stehen wir unter Routen, von denen wir sonst höchstens lesen: «Estado crítico» von Dani Andrada (9a), Chris Sharmas «Golpe de estado» (9b). Das also ist der State of the Art unseres Sports.

Die Legende Siuranas

Zu den bekannten Routen dieses Sektors zählt auch «La Reina Mora» (8c+), ebenfalls von Alexander Huber erstbegangen. Sie trägt einen geschichtsträchtigen Namen: Als Katalonien, das im 8. und 9. Jahrhundert von Muslimen besiedelt worden war, im 12. Jahrhundert von Christen zurückerobert wurde, konnte sich Siurana dank seiner strategisch günstigen Lage lange Zeit einer Einnahme widersetzen. Im Kastell, von dem heute nur noch Ruinen zeugen, soll die maurische Königin Abdelàzia geherrscht haben. Nachdem die Burg mehrere Monate von den Christen belagert worden war, wurde der mächtige Bau schliesslich gestürmt, angeblich aufgrund eines Verrats, Noch bevor sie vom Feind überwältigt werden konnte – so will es die Legende –, sprang die Königin auf ihrem Pferd von der hohen Felswand, auf dem das Kastell stand, in den Abgrund. Der Hufabdruck des Tiers soll heute noch im Stein zu erkennen sein, und der verzweifelte Sturz in die Tiefe gab dem darunterliegenden Klettersektor seinen Namen, «Salt de la Reina Mora».

Alternativen zum Klettern

Nach fünf ausgefüllten Klettertagen ist ein Ruhetag fällig. Wir verbringen ihn mit einer Fahrt übers Land, die uns durch die landschaftlich reizvolle Serra de Prades in das königliche Kloster Santa Maria de Poblet bringt. Das gut erhaltene Zisterzienserkloster aus dem 12. Jahrhundert mit seinem vom Plätschern des Brunnens erfüllten Kreuzgang gehört zum Weltkulturerbe der Unesco und vermittelt im Rahmen einer Führung einen lebendigen Eindruck davon, wie das Klosterleben bis ins 18. Jahrhundert hinein aussah. Kulturelle Sehenswürdigkeiten gibt es in diesem Teil Kataloniens viele, etwa die mittelalterliche Innenstadt von Montblanc, die von einer fast vollständig erhaltenen Stadtmauer mit fünf Toren und 31 Türmen umschlossen wird. Zudem lassen sich entlang der Weinstrasse die Weinbaugebiete Priorat und Montsant – sie gehören zu den ältesten Spaniens – erkunden und verschiedene Kellereien besichtigen. Neben Wein werden vor allem Haselnuss- und Olivenbäume angebaut, «Siurana» ist eine geschützte Ursprungsbezeichnung für Olivenöl.

Wer körperlich aktiv sein will, dem bieten sich als Alternative zum Klettern Wanderungen auf den gut ausgeschilderten Wegen um Siurana und im nordwestlich von Cornudella de Montsant gelegenen Parc Natural Serra de Montsant an, einem von insgesamt 18 Naturpärken in Katalonien. Schwimmen kann man nach einer Wanderung flussaufwärts in einem natürlichen Badebecken oder im Stausee Pantà de Siurana, an dessen Ufer auch Kajaks und Kanus ausgeliehen werden. Oder man holt sich beim Mountainbiken oder Paragliden neue Energie für weitere Klettertage. Falls die Routen ausgehen sollten: Die benachbarten Gebiete Montsant, Arboli (mit vielen leichteren Routen), Mussara und Margalef sind nicht weit.