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Heterogene Lerngruppen. Deutschlands Schulwesen steht nicht nur wegen der Flüchtlinge vor finanziellen und pädagogischen Herausforderungen. Das Foto zeigt eine Willkommensklasse für geflüchtete Schüler in Berlin-Schöneberg.

© Britta Pederse/ picture alliance / dpa

Nationaler Bildungsbericht 2016: Eine Schere klafft im Bildungssystem

Neuer Bericht „Bildung in Deutschland 2016“: Zwar machen immer mehr höhere Bildungsabschlüsse, aber viele Schüler mit Migrationshintergrund bleiben zurück.

Die Bildungsbeteiligung in Deutschland steigt – aber zugleich bleiben bestimmte Gruppen abgehängt. So nehmen zwar immer mehr Kleinkinder Betreuungsangebote wahr, 60 Prozent der deutschen Schulen machen Ganztagsangebote, die von einem Drittel der Schüler genutzt werden. Auch ist der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ohne einen allgemeinbildenden und beruflichen Bildungsabschluss gesunken. Aber weniger als halb so oft erreichen Jugendliche ohne deutschen Pass die allgemeine Hochschulreife und noch immer verlassen doppelt so viele von ihnen die Schule ohne Hauptschulabschluss. Während zehn Prozent der 30- bis 35-Jährigen ohne Migrationshintergrund keinen Abschluss haben, trifft das auf ein Drittel dieser Altersgruppe mit Migrationshintergrund zu.

"Wir sind überrascht über die Polarisierung"

Das ist das Ergebnis des nationalen Bildungsberichts „Bildung in Deutschland 2016“, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Der Bericht gehört zur Strategie des „Bildungsmonitoring“ in Deutschland. Er wird alle zwei Jahre von einer Gruppe von Wissenschaftlern herausgegeben, die an verschiedenen Forschungseinrichtungen arbeiten, federführend war das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Finanziert wird der Bericht von den Kultusministern der Länder und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung. "Wir sind überrascht über die zunehmende Polarisierung bei der Bildungsbeteiligung", sagte der Bildungsforscher Martin Baethge vom Soziologischen Forschungsinstitut an der Uni Göttingen (SOFI). "Für die unteren Gruppen hat sich die Lage nicht zum Positiven gewendet. Das muss uns sehr zu denken geben."

Es fehlen bis zu 44.000 Lehrkräfte - nur für 2015

Wie schon beim ersten nationalen Bildungsbericht vor zehn Jahren ist diesmal das Thema Migration Schwerpunkt. Allein die Integration der im vergangenen Jahr hinzugekommenen Flüchtlinge werde nur für das Jahr 2015 zusätzlich 2,2 Milliarden bis 3 Milliarden Euro kosten, schreiben die Forscher. Um alleine den akuten Personalbedarf zu decken, müssten je nach Modellrechnung 33.000 oder 44.000 zusätzliche Erzieherinnen, Lehrkräfte und Sozialarbeiter gewonnen werden - sofort. So sind in den Kitas zusätzlich bereits 43.000 bis 58.000 geflüchtete Kinder aufzufangen, in der Grundschule zwischen knapp 40.000 und knapp 53.000 und im dualen System zwischen 72.000 und 96.000. "Seit Jahrzehnten kennt Deutschland Migration", sagte Kai Maaz vom DIPF, der Sprecher der Autorengruppe. "Aber nun bekommt sie eine neue Dynamik und neues Gewicht. Das birgt die Chance, das System zukunftsfest zu machen." Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut stellte allerdings fest: "Die Politik muss jetzt die Weichen stellen und klären, wo wir das Personal herkriegen. Ich sehe aber keine Aufbruchstimmung."

"Komplex" und "dringlich"

Auch unabhängig von der Zuwanderung seien Lerngruppen aber immer heterogener zusammengesetzt. Dafür müssten „innovative pädagogische Lösungen entwickelt werden“. Die Aufgabe sei „komplex“ und „dringlich“. Besonderes Augenmerk sollte auch auf die „Neugestaltung der Schnittstellen zwischen erstem allgemeinbildendem Schulabschluss, Übergangssystem und Berufsausbildung“ gelegt werden. Im Jahr 2013 hatten 21 Prozent der Bevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund, besonders viele kommen aus EU-Mitgliedsstaaten. Der Großteil lebt in Westdeutschland und Berlin (96 Prozent). In einzelnen Ballungszentren haben mehr als 50 Prozent der Kinder unter zehn Jahren einen Migrationshintergrund. Ein Drittel der Kinder mit nicht deutscher Familiensprache besucht Kitas, in denen die Mehrheit der Kinder zu Hause ebenfalls kaum oder wenig Deutsch spricht. In Ballungszentren, auch in Berlin, betrifft dies mehr als die Hälfte aller Kinder mit nicht deutscher Familiensprache. Als „sprachförderbedürftig“ stufen die Forscher ein Viertel der Drei- bis Fünfjährigen ein. Die meisten der förderbedürftigen Kinder kommen aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss sowie mit nicht-deutscher Muttersprache (39 Prozent). 

Positiv heben die Forscherinnen und Forscher hervor, dass 15-Jährige mit niedrigem sozioökonomischen Status zwischen Pisa 2000 und Pisa 2012 beim Lesen um anderthalb Lernjahre zulegten. Der Anteil der schwächsten Leser reduzierte sich von 23 auf 15 Prozent.

Im Osten sind die Chancen für Jugendliche nur mit Hauptschulabschluss besonders schlecht

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen auch regionale Unterschiede fest, ein Nord-Süd- sowie ein Ost-West-Gefälle. Nirgends ist der Anteil von unter 18-Jährigen mit sozialen Risikolagen so groß wie in Berlin und Bremen. Er liegt bei 20 Prozent. In Bayern und Baden-Württemberg haben nur fünf Prozent eine soziale Risikolage. Insgesamt bleibt das Niveau bei den Risikolagen konstant, obwohl der Anteil der Betroffenen in einzelnen Ländern im Osten abnimmt. Bundesweit haben zehn Prozent eine soziale Risikolage, elf Prozent eine bildungsbezogene Risikolage, 19 Prozent eine finanzielle Risikolage und 28 Prozent mindestens eine Risikolage. Jugendliche, die nur einen Hauptschulabschluss haben, hätten in Ostdeutschland schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle. Außerdem bestünden für ostdeutsche Absolventinnen und Absolventen einer Ausbildung überdurchschnittlich hohe Arbeitsmarktrisiken. Sie erreichten auch niedrigere Einkommen.

Die Forscher sorgen sich ob der wachsenden privaten Angebote um die öffentliche Bildung

Außer Balance sehen die Forscher das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bei den Ausbildungsplätzen. Während einerseits Ausbildungsplätze nicht besetzt werden, gibt es in manchen Regionen einen starken Mangel an Ausbildungsplätzen, besonders im Westen und in Schleswig-Holstein. Die These, dass die steigenden Studierendenzahlen für die sinkenden Zahlen in der dualen Berufsausbildung verantwortlich sind, halten die Forscher indes für „ist unzutreffend“. Vor allem werde das traditionelle Potenzial in der Berufsausbildung nicht genutzt.

Erstmals seit zehn Jahren stieg sogar der Anteil von Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben und vom Übergangssystem aufgenommen werden mussten: um 7,5 Prozent auf fast 300.000. In strukturschwachen Regionen müssten zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen werden, auch aus Landesmittel, erklärten die Autoren der Studie. Die Wirtschaft müsse sich mehr engagieren, auch in der Ausbildungsvorbereitung. Angesichts des Studierendenbooms auf der einen Seite und der sinkende Zahl von Neuzugängen in der dualen Ausbildung, regen die Forscher mehr duale Studiengänge an.

"Abkehr von der öffentlichen Schule"

Außerdem werfen sie die Frage auf, ob das öffentliche Bildungssystem den herrschenden Bedarf deckt. Denn von privater Seite würden immer mehr Schulen und Studiengänge entwickelt. In allen Bundesländern außer Bremen stieg die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft zwischen den Jahren 2006 und 2014 deutlich, bundesweit von circa acht auf elf Prozent. Besonders hoch ist der Anteil von Grund- und Förderschulen, meistens sind die Kirchen die Trägerinnen. Spitzenreiter ist Mecklenburg-Vorpommern, das einen starken Zuwachs von Schulen in freier Trägerschaft von zehn auf 18 Prozent verzeichnete. Überhaupt ist der Zuwachs an freien Schulen in den ostdeutschen Ländern am stärksten. In Berlin stieg der Anteil von freien Schulen von elf auf 15,5 Prozent. Bayern liegt bei 15 Prozent, Baden-Württemberg bei 12,5 Prozent. Niedrige Werte verzeichnen Niedersachsen (5,9 Prozent), Rheinland-Pfalz (6,6 Prozent) und Nordrhein-Westfalen (7,8 Prozent). Ursache des Booms ist vor allem, dass das Angebot an öffentlichen Schulen in ländlichen Regionen rückläufig ist und freie Träger hier einspringen, sagten die Autorinnen und Autoren der Studie.

"Mangelversorgung"

Es herrsche in der Fläche "Mangelversorgung", die öffentlichen Schulen könnten nicht mehr finanziert werden, auch nicht bei den Kitas. Die Verfassung erlaube private Grundschulen nur, wenn sie von besonderem pädagogischen Interesse sind, erklärte Hans-Peter Füssel vom DIPF. In manchen Regionen sei aber "eine Abkehr von der öffentlichen Schule" zu verzeichnen. Es werfe Fragen auf, wenn eine kirchlich getragene Schule für Eltern, die das Bekenntnis nicht teilen, das einzige Angebot sei. Auch müsse man fragen, welche Rolle die freien und die öffentlichen Schulen bei der Integration jeweils erfüllten. Kai Maaz vom DIPF sagte, an privaten Schulen zeigten sich "Tendenzen zur sozialen Selektivität" bei der Rekrutierung der Schüler. Trotz dieser positiven Selektion schnitten die privaten aber nicht besser ab als öffentliche Schulen, wenn man die soziale Zusammensetzung statistisch kontrolliere.

„Maßgabe dieser institutionellen Vielfalt sollte sein, dass die gesellschaftliche Integrationsfunktion und die demokratische Legitimation des Bildungssystems erhalten bleiben und bestenfalls sogar gestärkt werden können“, erklären die Forscher. An den Fachhochschulen in privater Trägerschaft steigt der Studierendenanteil leicht, auf einen Anteil von 6,8 Prozent; bei den Universitäten ging er in den vergangenen fünf Jahren leicht zurück: von 21 auf 20 Prozent.

Wanka: "Integration braucht Zeit"

Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) sagte am Donnerstag bei der Präsentation des Berichtes in Berlin, sie freue sich über die Fortschritte bei der Chancengerechtigkeit. Der Bericht zeige aber auch, dass „Integration Zeit braucht“. Bildung und Integration sei eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Sie verwies auf vom Bund finanzierte Programme, die bereits Effekte zeigten - wie etwa die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, wo es vielfältige Ansätze gebe, wie angehende Lehrkräfte besser lernen, mit heterogenen Klassen umzugehen. Die Politik müsse sich auch den regionalen Disparitäten insbesondere in der dualen Ausbildung annehmen. So wie man es geschafft habe, Westdeutsche zu einem Studium in Ostdeutschland zu bewegen, müsse man auch "eine größere Mobilität bei der beruflichen Bildung erreichen", sagte Wanka.

Wie reagiert die Politik auf die zusätzliche Lehrkräfte und Erzieher, die für die Integration von Flüchtlingen im Bildungssystem gebraucht werden? Claudia Bogedan (SPD), Schulsenatorin in Bremen und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, sagte, die Schätzungen der Forscher stimmen mit denen der Politik überein. Die Länder hätten bereits zusätzliche Lehrkräfte eingestellt und mehr Mittel eingeplant. Teilweise lasse sich das Problem auch lösen, indem Pädagogen auf Teilzeitstellen künftig Vollzeit arbeiten. Auch würden Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher, die derzeit gar nicht in ihrem Beruf tätig sind, mobilisiert. "Es ist aber klar, dass wir hier einen Mangel haben", sagte Bogedan. Der Hamburger Schulsenator Thies Rabe (SPD) sagte, die große Zahl an geflüchteten Schülern könnte auch dazu führen, dass sich der Trend der jüngsten Schulstudien, dass sich gerade Bildungsbenachteiligte verbessern, erst einmal nicht fortsetzen lasse.

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