Jouanna Hassoun (re), Queer-Engel

© Sean Gallup/Getty Images
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Als Jouanna Hassoun sechs Jahre alt war, wurde sie, zusammen mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern, an die Wand gestellt. Bevor der bekiffte Soldat („Man sah, dass der sie nicht mehr alle hatte“) die palästinensische Familie erschießen konnte, griff ein anderer Uniformierter in letzter Sekunde ein.

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Es war immer gefährlich gewesen in dem Flüchtlingslager im ­Libanon, in dem Jouanna 1983 geboren wurde. Panzer fuhren durch das Lager, und einmal schlug ein Soldat dem Mädchen so hart auf den Kopf, dass ihr linkes Auge bis heute fast blind ist. Doch nach der Beinahe-Exekution war das Maß voll. Jouannas Mutter ­erklärte: „Ich kann euch nicht mehr schützen, wir müssen hier weg!“ 

So kam Jouanna Hassoun nach Berlin. Das war 1989, kurz vor der Wende. Bald waren die Schlagzeilen voll von Hoyerswerda, Mölln und Solingen, und auf dem Weg zur Asylunterkunft am Waldrand bewarfen gröhlende Typen die Kinder mit Bierflaschen.

Jouanna ist ein Energiebündel und packt an, wenn sie Probleme sieht

Irgendwie hat Jouanna Hassoun es geschafft, dennoch kein verängstigter oder verbitterter Mensch zu werden, sondern das Gegenteil: ein quirliges Energiebündel, das viel lacht und ungelöste Probleme nicht hinnimmt, sondern anpackt. Und das ist ein Glück, nicht nur für Jouanna selbst, sondern für viele Flüchtlinge, die seit Juni 2015 vor dem Berliner Lageso anbranden.

Jouanna sah, wie „täglich über 2.000 Menschen bei 32 Grad 16 Stunden am Tag vor dem Amt standen“. Sie sah die Diabetikerin mit den blauen, fast abgestorbenen Füßen und Kinder mit Durchfall und Flöhen. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten betrat sie wieder eine Flüchtlingsunterkunft. „Und als ich die kleinen Kinder in ihren Pyjamas über den Flur rennen sah, kam alles wieder hoch und ich dachte: So ein Kind war ich auch.“ Jouanna mobilisierte ihren Freundeskreis und ihren Kiez-Apotheker, verteilte Aspirin und Imodium. Nach drei Monaten Dauereinsatz klappte sie ­zusammen. Egal. Weitermachen. „Ich kann einfach nicht weggucken.“ Das, sagt sie, habe sie von ihrem großen Vorbild, ihrer Mutter. „Für die war Aufgeben auch nie eine Option.“ Gemeinsam mit FreundInnen gründete sie einen eigenen Hilfsverein: Transaidency. 

Nun tauchte das nächste Problem auf: homo- und transsexuelle Flüchtlinge in den Flüchtlingsunterkünften. Seit 2010 ist Jouanna Hassoun Projektleiterin bei MILES, dem Zentrum für lesbische und schwule MigrantInnen des „Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland“ (LSVD) Berlin-Brandenburg. Bei ihr melden sich die Unterkünfte, wenn es einen „Vorfall“ gegeben hat. Dann sitzt da wieder ein schwuler Afghane oder eine lesbische Syrerin und berichten verzweifelt, dass „man ihnen gesagt hat, sie wären ein Stück Dreck und müssten deshalb auf dem Boden schlafen“. Jouannas „Klientinnen und Klienten“ berichten von Verachtung und Vergewaltigungen. Kürzlich hat einer versucht, sich umzubringen. 130 gewaltsame Übergriffe allein in Berlin hat MILES innerhalb eines Jahres registriert. 

Jouanna und ihre KollegInnen hängten Plakate in die Flüchtlingsunterkünfte: Darauf küssten sich zwei Männer oder zwei Frauen, darunter stand: „Liebe verdient Respekt“. Auch auf Arabisch. Sie schalteten eine Hotline. Diejenigen, die sich meldeten, brachten sie zunächst privat unter. „Es gab eine unglaublich große Hilfsbereitschaft in der Community“, erzählt Jouanna. Dann rannten sie der Senatsverwaltung die Bude ein, damit die eine eigene Unterkunft für homo- und transsexuelle Flüchtlinge schafft. Zuerst stießen sie auf taube Ohren. Da Jouanna ungelöste Probleme hasst, gab es heftige Schrift- und Wortwechsel. „Ich sage mal so: Ich bin sehr leidenschaftlich geworden“, erzählt sie und grinst. Es nützte. Im März 2016 eröffnete die „queere Unterkunft“, in der heute 120 Menschen leben. 80 Prozent sind schwule Männer, zehn Prozent lesbische Frauen und zehn Prozent Transsexuelle. Die Frauen, erklärt Jouanna, „sind seltener allein unterwegs und wagen deshalb viel seltener, sich zu outen“. Für ihr Engagement wurde ihr der Verdienstorden des Landes Berlin verliehen. Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch kam zu Besuch und wollte von Jouanna (Foto links) und homosexuellen Geflüchteten wie der Syrerin Enana (Foto rechts) etwas über ihr Leben erfahren. 

Als Jouanna endlich den deutschen Pass in den Händen hielt, brach sie in Tränen aus

Doch durch ihr Engagement hat Jouanna Hassoun ein neues Problem. Sie spricht aus, was ein Teil der linken (Homo)Community nicht gern hört: „Es gibt eine importierte Homophobie, und es bringt niemandem was, das zu leugnen.“ Denn was man leugnet, kann man nicht verändern. Aber sie weiß natürlich, dass das Wasser auf die Mühlen von Rassisten ist. Und von denen will sie nicht instrumentalisiert werden. Jouannas ebenso einfache wie einleuchtende Maxime lautet: „Arschlöcher sind Arschlöcher.“ 

Rassismus hat sie selbst genug zu spüren bekommen. Ihre Mutter, die putzte und Regale einräumte, bevor die Eltern ein kleines Restaurant eröffneten, wurde auf der Straße von Nazis und deren Hunden angegriffen. Ihr Bruder, Klassenbester, durfte seine Lehrstelle bei AEG nicht antreten, weil die Familie nur eine „Duldung“ hatte. Jouanna selbst hätte gern Jura studiert, durfte aber aus demselben Grund kein Abitur machen. Sie begann eine Ausbildung zur Zahnmedizinischen Assistentin, die sie abbrach, stattdessen gründete sie in Moabit den interkulturellen Mädchentreff „Dünja“, wo sie schließlich eine Stelle bekam. „Die Mädels, die ich da betreut habe, machen alle eine Ausbildung oder studieren“, sagt Jouanna stolz.

Obwohl alle Kinder „permanent gearbeitet haben“, stand die Familie zweimal kurz vor der Abschiebung. Als Jouanna im Jahr 2011 endlich ihren deutschen Pass in der Hand hielt, brach sie auf dem Amt in Tränen aus. Anschließend feierte sie eine „Kartoffelparty“. „Ich liebe Kartoffeln“, sagt die Deutsch-Palästinenserin. Zu den Kartoffeln gab es Hummus.

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Christa Stolle für Menschenrechte

© Martin Funck/TdF
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Es muss im dritten oder vierten Semester ihres Ethnologie-Studiums in Bonn gewesen sein, als Christa Stolle (Foto Mitte) nicht ­fassen konnte, was ihr Professor seinen StudentInnen da ­erzählte. Das Thema lautete: Genitalverstümmelung. „Und der erklärte, das sei eben ein wichtiges Initiationsritual für Mädchen, das man respektieren müsste.“ Das fand Studentin Stolle überhaupt nicht. Sie hielt die Tatsache, dass Millionen Mädchen Klitoris und Schamlippen abgeschnitten werden, für skandalös. Aber als die Studentin das sagte, handelte sie sich eine Menge Ärger ein. Ärger mit denen, die fanden, Ethnologen müssten „neutral“ sein und dürften den „Forschungsgegenstand“ nicht beeinflussen. Für Christa Stolle hingegen war klar: „Wir müssen der anderen Kultur natürlich auf Augenhöhe begegnen, aber einer so grausamen Tradition gegenüber neutral sein – das geht nicht!“ Und damit, seufzt Stolle, „begann der Stress mit den Kulturrelativisten, den ich bis heute habe.“ 

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Aber es begann auch der Weg von Christa Stolle (Foto 6. v. re) von der empörten Ethnologie-Studentin zur kämpferischen Frauenrechtsaktivistin. Und zur Geschäftsführerin von Terre des Femmes, die sie jetzt seit fast 27 Jahren ist. TdF, gegründet 1981, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um so genannte „Verbrechen im Namen der Ehre“ geht. Schon lange vor dem Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005 prangerte die Organisation Zwangsverheiratung und Ehrenmorde an. Via Lobbyarbeit trug sie entscheidend dazu bei, dass Genitalverstümmelung in Deutschland seit 2013 ein eigener Straftatbestand ist. 

"Es gibt noch eine 'Vierte Welt' - das ist die der Frauen."

Im Herbst 2015, als die Flüchtlinge nach Deutschland strömten und so manche verheiratete 16- oder gar 14-Jährige darunter war, startete TdF die Petition „Frühehen stoppen!“ Ihre Forderung: Keine Eheschließung unter 18 Jahren! Über 100.000 Menschen unterschrieben, Terre des Femmes übergab die Unterschriften im Mai 2016 bei einem Fachgespräch im Justizministerium. „Wir hoffen, dass die Ehe ab 18 ohne Wenn und Aber bis Ende des Jahres durch ist“, sagt Christa Stolle im Ton der routinierten Gesetzesreformerin. Die 57-Jährige ist mit vier Geschwistern auf einem Bauernhof bei Oldenburg aufgewachsen, die Familie hielt Pferde und Hühner und betrieb eine Fischzucht. Aber auf dem katholischen Mädchengymnasium gab es „viele neue junge LehrerInnen, die uns den Blick in die Welt geöffnet haben“. Auf diese Welt war Christa neugierig. Und so begann sie, nach einem Jahr in den USA, ein Ethnologie-Studium in Bonn und Tübingen. „Und da öffneten sich mir die Augen“, erzählt Stolle. Sie sah auf die so genannte Dritte Welt und stellte fest: „Da gibt’s noch eine vierte Welt – und das ist die der Frauen.“

Nur eckte sie mit dieser Haltung an. Auch in Seminaren, die sich „feministisch“ nannten. Da ging es zum Beispiel um Menstruationshütten, in denen sich die Frauen während ihrer Periode verbergen mussten. „Da habe ich gefragt: Was soll denn daran bitte feministisch sein? Ich will, dass Frauen und Männer gleichberechtigt leben!“

Und so machte sich Christa Stolle auf die Suche nach einer Organisation, die das, was den Frauen passierte, als Menschenrechtsverletzung ansah und dagegen kämpfen wollte.“ Sie fand: Terre des Femmes. Das war 1985. Vier Jahre zuvor hatte die Hamburger Journalistin Ingrid Staehle die Frauenrechtsorganisation gegründet. Der an das Kinderhilfswerk Terre des Hommes angelehnte Name war Programm. Jetzt also die „Erde der Frauen“. Fünf Jahre lang engagierte sich Stolle ehrenamtlich in der Städtegruppe Tübingen. 1990 wurde sie Geschäftsführerin. Sie gründeten das Referat „Frauenrechte in islamischen Gesellschaften“ und starteten die Kampagne „Gewalt im Namen der Ehre“. Und schließlich, als immer mehr betroffene Frauen sich an sie wandten, eröffneten sie auch eine Beratungsstelle.

Heute hat die Organisation, die 2011 von Tübingen nach Berlin zog, 34 hauptamtliche Mitarbeiterinnen plus Ehrenamtliche in 24 Städtegruppen; der Verein hat 2.000 „Mitfrauen“ und 4.000 regelmäßige finanzielle FörderInnen. Auf eines ist Geschäftsführerin Stolle besonders stolz: „Wir finanzieren uns zu 70 Prozent aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Das macht uns frei, denn wir müssen uns nicht reinreden lassen. Darauf habe ich immer gesetzt!“ 

"Wir haben es
an mehreren Fronten mit einem Backlash zu tun!"

Die innere Unabhängigkeit wird künftig womöglich noch wichtiger werden. „Wir haben es an mehreren Fronten mit einem Backlash zu tun“, sagt Stolle. Da ist auf der einen Seite der Islamismus. „Dem wird teilweise mit einer unglaublichen Toleranz begegnet, die die Tür für patriarchale Traditionen ganz weit öffnet“, ärgert sich die Frauenrechtlerin. Von der anderen Seite kommen die Rechtspopulisten mit ihrem rückwärtsgewandten Frauenbild. Und manchmal zwingt das Christa Stolle zu einem Spagat. So bat kürzlich das baden-württembergische Sozialministerium Terre des Femmes um eine Stellungnahme zur Vollverschleierung. Selbstverständlich ist die Frauenrechtsorganisation für ein Verbot von Burka und Niqab. Das Problem: Den Gesetzentwurf hatte die AfD eingebracht. Nun ging bei Terre des Femmes die Debatte los: Man dürfe mit der AfD keine gemeinsame Sache machen, fanden die einen. Die anderen, zu denen auch Christa Stolle gehörte, erklärten: „Das Verbot der Vollverschleierung ist richtig. Warum kommt der Gesetzentwurf denn nicht von einer anderen Partei?“ Genau das schrieb Stolle auch in die Stellungnahme.

Die Menschenrechtsarbeit für Frauen wird in den nächsten Jahren nicht leichter werden. Da ist es gut, dass „meine Männer meine größten Unterstützer sind!“ Irritation über den Plural ist nicht nötig. Christa Stolle, Mutter einer 25-jährigen Tochter, versteht sich einfach sehr gut mit ihrem Ex-Mann. Und mit ihrem aktuellen sowieso. Den Support kann sie gut gebrauchen. Denn: „Wir haben in den nächsten Jahren echt viel zu tun!“
 

Terre des Femmes

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