Ein Mann des Wortes und der Wörter

Ein Diplomat war er nicht. Dafür ist Martin Luther ein Sprachereignis.

Sibylle Lewitscharoff
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Ein Mann der groben Worte, ein schweigender Mönch oder ein feinfühliger Sprachjongleur? (Bild:AKG)

Ein Mann der groben Worte, ein schweigender Mönch oder ein feinfühliger Sprachjongleur? (Bild:AKG)

Das Streben nach Wahrheit leitete Martin Luther, zugleich besass er ein starkes Selbstvertrauen, welches immer die Gefahr birgt, an Sturheit zu leiden. Und wahrlich, stur war der Kerl. Kein Kompromisskandidat. Ein Hartredner war er, ein Mann der Wucht, der mit Worten kräftig dreinhauen konnte, dessen eher grober Körper jedoch auch ein zartsinniges Herz besass – davon zeugen die sanftmütigen und leisen Wörter, über die er ebenfalls verfügte. Sie können sachte in die Ohren des Hörers und ins Gemüt des Lesers dringen.

Vielleicht ist gerade dieses Hin und Her aus ungestümer Sprachkraft und feinhörigem Lauschen auf die innersten Seelenregungen, was es diesem Mann erlaubt hat, zu einem deutschen Zyklopen, einer Art Gewitterdämon des Geistes, zu werden, ohne als böser Poltergeist zu enden. Wir müssen uns einen Mann vorstellen, der es sich bei Tisch wohl sein lässt und dort auch so manche Rede schwingt.

Zwei Naturen steckten in einer Haut – der Schwadroneur und der innige Mensch zugleich

Kurios ist nur, dass sein feuriger Redeeifer bisweilen erlosch, er ganz in sich gekehrt dasass und kein Wörtlein redete. Ob er dabei in sich hineinhorchte und seine Sünden bebrütete, wissen wir nicht. Beide Haltungen charakterisieren Luther gut. Zwei Naturen steckten in einer Haut – der Schwadroneur und der innige Mensch zugleich, eine besondere Mischung, die auch damals vermutlich nicht alltäglich war. Diplomatie war leider nicht seine Stärke. Und das führte letztlich zum Dissens mit der katholischen Kirche.

Das Treiben in den Kirchen

Als der Reformator auf den Plan trat, ging es in den Kirchen recht bunt zu. Gelächter, Zornausbrüche, Kommerz, ein geselliges Drunter und Drüber waren an der Tagesordnung. Gepredigt wurde vorwiegend auf Latein, was die Priester nicht davon abhielt, dazwischen saftige Wörter aus der Volkssprache zu benutzen.

Allseits präsent war der Tod. Sich von ihm einschüchtern zu lassen, indem der Priester die Höllenqualen heraufbeschwor, war eine Sache, ihm mit karnevalesken Umzügen und Gelächter die Stirn zu bieten, die andere. Strenge und das Über-die-Stränge-Schlagen waren gleichzeitig an der Tagesordnung.

Martin Luther waren solche Umtriebe zuwider, er war ein Wortmensch oder besser gesagt: Wortfex. Gott hatte sich in Wort und Schrift offenbart. Luther nahm es damit ernst. Dass Gottes Wort dem einfachen Volk in dessen Sprache verkündet werden müsse und denen, die lesen konnten, das grosse Buch in deutscher Sprache zugänglich sein sollte, dem widmete er sich mit aller Kraft. Zweifellos war er der richtige Mann dafür, obwohl er nicht der Einzige war, der dazu aufforderte, die Liturgie auf Deutsch zu sprechen.

Für seine Übersetzung klaubte sich Luther aus den zersplitterten deutschen Sprachregionen die passenden Wörter zusammen, trieb Studien, die man zwar nicht in modernem Sinn als philologisch bezeichnen kann, denn ein Gelehrter, der aus kühlem Abstand auf den Text blickt und ihn damit auf prüfbare Distanz hält, war er nicht. Das Herz loderte, der Kopf sprühte, die Haut schwitzte. Martin Luther stand nicht nur als Redner unter Dampf. Den Kommentaren, mit denen er seine Übersetzung der beiden Testamente umzirkte, merkt man an, wie sehr ihn dabei etwas Gewaltiges umtrieb.

Dass er kein diplomatisches Geschick besass, spürt man nicht nur bei seinen Reden, mit denen er die kirchliche Obrigkeit herausforderte, auch die Annäherung an das Judentum, die er in jüngeren Jahren betrieb, kehrte sich rasch um in ein enttäuschtes Gegenteil. Als entgegen seiner Hoffnung das ältere Bibelvolk sich nicht in Scharen um ihn als neuen Religionsverkünder sammelte, wurde er gehässig. Seine fatalen Sprüche über die Juden werfen ein böses Schlaglicht auf den Reformator. Persönlich kannte er so gut wie keine Juden.

Da er gleichzeitig den jüdischen Teil der Bibel enorm aufwertete, der damals bei den Predigten eine untergeordnete Rolle spielte, kann man nur betrauern, dass Martin Luther die Chance verpasste, eine versöhnliche Haltung zu entwickeln – wer weiss, vielleicht hätte es sogar in seiner Macht gelegen, das Schwert zu begraben und das Feuer zu ersticken, mit denen die Christen den Juden nach dem Leben trachteten.

Er hatte viel in der Hand, eine hohe Wirkmacht, die sich leider nicht als sänftigend erwies, erst recht nicht gegenüber den Juden, aber auch nicht in Bezug auf die Katholiken, so dass sich der Hass im Dreissigjährigen Krieg in einer Verheerung riesiger Landstriche in Europa entlud und der Hass auf die Juden fortdauerte. Natürlich waren während des langen Krieges auch andere Machtinteressen im Spiel, die mit den Arten, die Bibel auszulegen, nichts zu tun hatten.

Für die Greuel nach seinem Tod kann man Luther nicht verantwortlich machen. Die Vernichtung des europäischen Judentums in den Gaskammern der Nationalsozialisten ist eine beispiellose Katastrophe. Obwohl einige Wortführer des sogenannten «Dritten Reichs» ihre Hetze gegen die Juden hin und wieder mit Luther-Sprüchen spickten, ist es schwierig, den Reformator dafür in Haft zu nehmen. Derartige Greuel konnte der Mann sich nicht im Entferntesten vorstellen.


Warum Luther bis heute beschäftigt und fasziniert. Der Themenschwerpunkt der NZZ.


Trotzdem legt sich damit ein schwerer Schatten auf ihn. Und man darf noch einmal spekulieren: Hätte Martin Luther an seiner anfänglich versöhnlichen Sicht auf das Judentum festgehalten, wer weiss, ob sich das Verhältnis zwischen Christen und Juden nicht dauerhaft friedlicher hätte gestalten können. Hätte er gewollt, hätte er gesagt, hätte er geschrieben – letztlich sind solche Spekulationen unnütz, und so bleibt es dabei, dass die Vernichtung des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert nicht nur die folgende Zeit beschwert, sondern auch als böser Schatten über die vergangenen Jahrhunderte hinwegstreicht und ein Ausläufer davon über dem Kopf des Reformators hängenbleibt.

Alle Menschen sind Sünder. Die Radikalität der Sündhaftigkeit zu betonen, war schon zu Augustinus' Zeit einem Pessimismus geschuldet, der mit den kriegerischen Wirren der historischen Umstände zusammenhing. In ihnen galt das einzelne Leben des Menschen wenig. Wo der Tod immerfort schreckliche Beute macht, sinkt der Wert des menschlichen Lebens gegen null. Es ist eine zutiefst pessimistische Auffassung in Bezug auf die Möglichkeit des Menschen, Freiheit von der Schwere seiner Sündenlast schon zu seinen Lebzeiten zu gewinnen.

Die Bibelübersetzung

Martin Luther schloss sich dem vorbehaltlos an und bekämpfte darum auch die Vorstellung, dass es ein Fegefeuer geben könne. Eine dritte, vermittelnde Möglichkeit ist damit ausgeschlossen. Darin zeigt sich eine scharfe Trennung zwischen Gottes Ja und Gottes Nein. Mir ist diese Auffassung nicht geheuer, mir kommt es auf die Zwischentöne an, weil sie zur schwankenden Verfasstheit des Menschen besser passen. Ein zu Güte und Liebenswürdigkeit neigender Mensch kann eine böse Handlung begehen. Ein böser Mensch kann in seltenen Augenblicken seines Lebens etwas Gutes tun.

Das Übersetzungswerk ist würzig, ist derb, das haut rein

Luthers Übersetzung der Bibel! Bei diesem Thema darf man durchaus ins Schwärmen geraten, denn sein wortbewimmeltes Hirn – seine eifrigen Studien, um immer mehr Wörter aus den verschiedenen Teilen des Landes in sein Werk zu inkorporieren – erfüllt mich mit heller Begeisterung. Das Übersetzungswerk ist würzig, ist derb, das haut rein, ist zuweilen zart und steht einem heutigen Leser auch deshalb als Faszinosum vor Augen, weil die Bibel in dem älteren Deutsch als eine befremdliche Schönheit wie neu ersteht, mit deren Sinn er sich frisch befassen muss, eben weil die Sprache nicht in der gewohnten Geläufigkeit dahergaloppiert.

Schwarze Löcher im Text

Hinzu kommt, dass Martin Luther sich einen Sinn für die schwarzen Löcher bewahrt hat, die in der Bibel zwischen den knapp gehaltenen Sätzen gähnen, wiewohl er des Öfteren zu Füllseln griff, die den Sinn etwas geschmeidiger daherlaufen lassen, als es in den originären Schriften der Fall ist.

Dieser Schwarzlocheffekt hat immer neue Generationen dazu verlockt, sich in die Löcher zu versenken, um mit glanzvollen Schätzen der Interpretation daraus emporzutauchen. Wehe, alles ist ausformuliert und gemeinverständlich, dann lässt sich ein bedeutender Text nicht tradieren, weil er bereits nach ein, zwei Generationen erloschen ist und kein Arkanum mehr birgt, das frische, auch umstürzlerische Kommentare hervorlocken kann.

Ein solches Argument kann bei einem Prediger, der sich um Interpretation auf verständliche Weise bemüht, nicht verfangen. Zumal hier das Faszinosum des Althergebrachten mitschwingt, und dabei gerät man leicht in tümelndes Fahrwasser. Gerade weil die Bibel in Luthers originaler Verschriftung heute nicht so mühelos heruntergelesen werden kann, erhält sie den patinierten Glanz des Althergebrachten, das aus einem geheimnisvollen Dunkel als entborgenes Juwel hervorleuchtet.

Das klingt nach Vergangenheitsromantik, denn zu Luthers Zeit war diese Sprache ja hochmodern. Trotzdem: Luthers Originalsprache winkt mir von weit her zu. Wenn sich die Bibelübersetzungen ganz und gar dem modernen Sprachgebrauch ausliefern und damit auf überaus kommode Weise verständlich werden, gehen sie der Möglichkeit der Interpretation verlustig. Solange der Schatten einer dunkleren Wortwahl aufhorchen lässt, der nicht bis aufs letzte Fitzelchen ausgedeutet werden kann, bewahrt die Bibel ihr Offenbarungsgeheimnis.

Extreme Wetterlagen

Liegt alles in planer, alltäglicher Sprache vor uns, latschen wir in den biblischen Texten herum wie schlecht erzogene Badegäste. Ich bin froh, wenn ich in der Bibel lese und nicht alles verstehe, weil sich genau solche Passagen zu einem seelischen Weckruf verdichten können, der mich dem in der Bibel enthaltenen Mysterium tremendum näherbringt. Trotz dem sprachlichen Brückenbau über so manch schwarzes Loch hinweg lässt Martin Luthers Übersetzung die Gewalt des parataktischen Nebeneinanders der Sätze noch spüren, wo es kein kommodes Geländer gibt, an dem man sich festhalten könnte.

Wer die Bibel ausstopft mit gemütlichem Gemeinsinn und gut ausgeschilderten Wanderwegen, bereitet ihrer Wirkmacht ein Ende. Das Buch der Bücher ist von starken seelischen Gefährdungen umwittert, immer wieder von blitzhaft einschlagender Hoffnung erleuchtet. Martin Luther war ein Mann extremer Wetterlagen, heimgesucht von stürmischem Wortgebraus, schwarzgallig verbissen in die Verzweiflung, hoch auffahrend in der Sehnsucht nach Erlösung – und darin liegt die Zündkraft seiner Bibelübersetzung.

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff lebt in Berlin. Im letzten Herbst ist (bei Suhrkamp) ihr Dante-Roman «Das Pfingstwunder» erschienen.

Luther, ein Lucas Cranach d. J. (1515–1586) zugeschriebenes Porträt. (Bild:AKG)

Luther, ein Lucas Cranach d. J. (1515–1586) zugeschriebenes Porträt. (Bild:AKG)