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Was ist möglich in Russland?

LGBTI-Jugendliche beim Austausch im August 2017 auf der Haseninsel in Sankt Petersburg (c) Ben ReichelSankt Petersburg: Jugendaustausch in Zeiten der Krise

 Aus Anlass des 60-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft Hamburg – Sankt Petersburg fand vom 24. bis 28. August 2017 in Sankt Petersburg/Russland ein internationaler Jugendaustausch statt. Während die Jugendlichen aus Hamburg die Stadt und ihre Austauschpartner*innen kennen lernten, rangen die Behörden der beiden Städte im Hintergrund tagelang an einer gemeinsamen Erklärung. Die Zivilgesellschaft in Deutschland hat es geschafft, dass LGBTI auch durch staatliche Förderungen gegen Diskriminierungen geschützt werden sollen – in der Russischen Förderation dagegen ist das „Propagieren von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen“ verboten, wenn Jugendliche davon Kenntnis nehmen können. Eine kritische Zivilgesellschaft ist allgemein nicht gewünscht. 

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sind weiter verstärkten Einschränkungen unterworfen. Menschenrechtsverteidiger*innen werden wegen ihrer Aktivitäten mit Geldstrafen belegt oder strafrechtlich verfolgt. Die Journalistin Lena Klimova wurde mehrmals zum „Amnesty-Fall“: Weil sie LGBTI-Jugendlichen online eine Plattform gab, ihre Geschichten anonym zu erzählen oder Fragen zu stellen, wurde sie wegen des „Propaganda-Gesetzes“ für schuldig gesprochen. Wir erfuhren, dass sie immer noch aktiv ist. Weil sie keine Jugendlichen ansprechen darf, wendet sie sich, ebenfalls online, vor allem an die Eltern und trägt mit ihrer wertvollen Arbeit weiterhin zur Aufklärung bei. In Anbetracht des Gesetzes, welches Jugendliche seit 2013 russlandweit davor „schützen“ soll, Informationen über LGBTI zu bekommen, ist dem LSVD Hamburg etwas ganz besonderes gelungen: LGBTI-Jugendliche aus Sankt Petersburg sind Teil des Austauschs. 

Hamburg trifft St. Petersburg (c) LSVD HambugIm Rahmen dessen unterhalte ich mich bei einer Stadtrallye mit Bina (Name geändert), die erst seit einem halben Jahr bei der Organisation „Coming-Out“ ehrenamtlich tätig ist. Bina ist ganz im Norden Russlands aufgewachsen. Die ganzjährige Kälte dort, vier Monate Dunkelheit im Winter und ihre Bisexualität haben sie nach Sankt Petersburg verschlagen. Während es in der größten Stadt Europas, Moskau, mit mehr als 12 Millionen Einwohnern kaum eine LGBTI-Szene gibt, bevorzugte sie bei ihrer Wahl der Universität das weniger konservative Sankt Petersburg. Dennoch orientiert sie sich nicht in Richtung Westen, sondern studiert Orientalistik, lernt türkisch, farsi, arabisch und würde nicht auf die Idee kommen ihren Eltern von ihrer Bisexualität zu erzählen: „Sie würden es nicht verstehen.“, sagt sie und fügt schmunzelt hinzu: „Meine Eltern sollten besser nicht wissen, was ich so treibe“. In einem Land zu leben, in dem Jugendliche per Gesetz kein positives Bild z.B. von Bisexualität erfahren, ist es wesentlich schwerer ein Coming-Out zu wagen. Ein Jugendaustausch ist deshalb so wichtig, damit die russische LGBTI-Jugend sehen kann, was in offenen Gesellschaften möglich ist, z.B. beim Hamburg Pride. „Dort sind Zehntausende so wie sie. Das stärkt dann ihr Selbstbewusstsein, es verändert sie und sie gehen gestärkt in ihren Alltag nach Sankt Petersburg zurück.“, sagt Wolfgang Preussner vom LSVD Hamburg, einer der beiden Initiatoren des LGBTI-Austausches.

Hamburg trifft St. Petersburg (c) LSVD HambugIn Sankt Petersburg ist die queere Szene noch weiter zusammengeschrumpft. In der 5 Millionenstadt finden sich nur noch wenige Möglichkeiten sich zu treffen. Wir besuchten zwei Clubs, klingelten an der Tür, wurden „vorgewarnt“: „It’s a gay club“. Anders als bei uns scheint Karaoke weniger eine Spaßveranstaltung zu sein – alle können gut singen. Eine Teilnehmerin trällert den russlandkritischen Gewinner des Eurovision Song Contest 2016 von Jamala aus der Ukraine. Wir fragen uns immer wieder: Was ist möglich in Russland? Eine Antwort von Vielen, die wir fragen, lautet: „Du musst mit allem rechnen.“ Die Bandbreite ist dabei so groß wie das Land: • LGBTI-Vereine in Sankt Petersburg haben alle ihren NGO-Status seit unserem letzten Besuch im Jahr 2013 gewechselt, um dem sogenannten Agentengesetz zu entgehen. • Die queeren Filmtage „Side by Side“ können ihre Filmveranstaltungen vielfach nicht mehr in den Kinos von Sankt Petersburg zeigen – zu sehr wird Druck auf sie ausgeübt. Mittlerweile finden die Vorführungen auch in westlichen Hotels statt. • Kurz vor unserer Reise, nach der Pride-Demonstration in Sankt Petersburg, nahm die Polizei eine Teilnehmerin fest, die noch ein Schild mit dem Aufdruck „Ich liebe meine Frau“ hochhielt. Später attackierten zudem mehrere mutmaßlich nationalistische Jugendliche die Teilnehmer*innen der Demo mit Pfefferspray aus Sprühpistolen. Mindestens fünf Personen wurden dabei verletzt. • In Moskau dagegen findet der Pride gar nicht erst statt. • Im April berichtete die unabhängige Zeitung „Nowaja Gaseta“, dass in Tschetschenien über hundert LGBTI systematisch verschleppt, inhaftiert und misshandelt wurden. Mindestens drei von ihnen starben. Amnesty International hält diese Berichte nach eigenen Recherchen für glaubwürdig. 

Ben Reichel 
Queeramnesty Hamburg / begleitete den Jugendaustausch



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