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Unrechtsparagraf

123 Jahre Leid und Unterdrückung von Homo­sexuellen

Vor 25 Jahren, am 11. Juni 1994, war der Paragraf 175 endgültig Geschichte. Trotz der späten Rehabilitierung muss Deutschland noch weitere Lehren aus der Schwulenverfolgung ziehen.


Erst 2017 wurden die nach 1945 verurteilten Opfer der staatlichen Homosexuellenverfolgung in Deutschland mit Verweis auf Artikel 1 des Grundgesetzes rehabilitiert (Bild: Dontworry / wikipedia)
  • 10. Juni 2019, 12:59h 13 4 Min.

Seit 25 Jahren ist Homosexualität in Deutschland nicht mehr strafbar. Am 10. März 1994 beschloss der Deutsche Bundestag die endgültige Streichung des Paragrafen 175 – 123 Jahre nach seiner Einführung. Am 11. Juni 1994 trat schließlich die Reform in Kraft.

Geschichte eines Unrechtsparagrafen

Der Paragraf 175 des Strafgesetzgebuchs (StGB) hatte von 1871 bis 1994 in verschiedenen Fassungen Gültigkeit. Er wurde mit der Gründung des Deutschen Reiches eingeführt. Die erste Fassung besagte: "Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden." Bis dahin waren in mehreren Teilen Deutschlands – etwa in Bayern – die Homo-Verbote dank französischen Einflusses weggefallen. Das wurde durch die Vereinigung wieder rückgängig gemacht.

Im Kaiserreich wurden knapp 10.000 Menschen aufgrund dieses Paragrafen verurteilt, davon nur eine kleine Minderheit wegen Sodomie. Obwohl er in der Weimarer Republik weiter Bestand hatte und es auch zu mehreren tausend Verurteilungen kam, blühte das schwule Leben gerade in Berlin auf. Mehrere Versuche liberaler und linker Parteien, den Paragrafen abzuschaffen, scheiterten jedoch im Reichstag.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Homosexualität lebensgefährlich: 1935 verschärfte die NSDAP den Paragrafen. Nun drohten zehn Jahre Zuchthaus. 1939 urteilte das Reichsgericht zudem, dass "Unzucht" auch vorliege, wenn "keine körperliche Berührung des anderen stattgefunden hat." Schätzungsweise 100.000 Männer wurden im Dritten Reich nach dem Paragraf 175 verurteilt. Viele Schwule wurden zudem kastriert und etwa 15.000 in Konzentrationslager geschickt.

Homosexuelle erlebten nach 1945 keine Befreiung

Nach der Befreiung galt in der Bundesrepublik bis 1969 die verschärfte Nazi-Fassung des Paragrafen. Es kam zu insgesamt 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen allein in Westdeutschland. Die Große Koalition hob schließlich das Total-Verbot auf, es galten allerdings immer noch unterschiedliche Altersgrenzen für (männliche) Homosexuelle und Heterosexuelle. Für Schwule lagen diese bei 21 Jahren bzw. 18 Jahren (ab 1973); für Heteros waren es 16 Jahre. In der DDR galt das Homo-Verbot bis 1968 in der Vornazi-Fassung. Auch dort waren die Schutzaltersgrenzen nach Paragraf 151 StGB-DDR bis 1989 unterschiedlich. Schließlich hob die Volkskammer kurz vor dem Mauerfall das Gesetz komplett auf.

Im Rahmen der Rechtsanpassung der beiden deutschen Staaten musste die damalige schwarze-gelbe Bundesregierung eine Entscheidung treffen. Kanzler Helmut Kohl (CDU) entschied sich pragmatisch für das fortschrittliche DDR-Recht: Am 10. März 1994 beschloss das Parlament die Streichung des Paragraf 175 auch im Westen, am 11. Juni trat das "Neunundzwanzigste Strafrechtsänderungsgesetz" in Kraft. Im selben Jahr kam es aber noch zu 44 Verurteilungen.

Der lange Weg zur Rehabilitierung

Die Rehabilitierung der Betroffenen ließ lange auf sich warten. In einem ersten Schritt erklärte der Bundestag am 17. Mai 2002 die Verurteilungen aus der NS-Zeit für nichtig, übrigens gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP.

Die Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 verurteilten Opfer der staatlichen Homosexuellenverfolgung erfolgte erst 2017, diesmal immerhin per einstimmigen Beschluss. Kaum aufgearbeitet ist weiterhin die Verfolgung und Diskriminierung von Lesben sowie inter und trans Menschen in Deutschland. Opfer von medizinischen Zwangsbehandlungen und -sterilisationen haben bislang keinen Anspruch auf eine Entschädigung.


Nicht nur beim CSD Köln 2016 wurde für die Rehabilitierung der verfolgten Schwulen gekämpft

Forderungen zum Jahrestag

Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) warf der Bundesregierung vor, in der Flüchtlingspolitik aus der Abschaffung des Paragrafen 175 nichts gelernt zu haben. "Wegen der langen Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung hat Deutschland heute eine besondere Verantwortung für Menschen, die wegen ihrer Homosexualität, als Trans* oder intergeschlechtliche Menschen in ihrer Heimat verfolgt werden und bei uns Schutz suchen", erklärte LSVD-Bundesvorstand Helmut Metzner. "Ein Land mit der schrecklichen Geschichte des § 175 StGB muss diesen Menschen nicht nur Schutz bieten, sondern es darf niemals andere Länder mit einer ähnlichen homosexuellenfeindlichen Gesetzgebung zu 'sicheren Herkunftsstaaten' erklären."

"Politische Stimmungslagen dürfen nicht zur Gefahr für Freiheit und Würde des Einzelnen werden", warnte der Sprecher für Lesben- und Schwulenpolitik der FDP-Fraktion, Jens Brandenburg, zum Jahrestag der Streichung des Paragrafen 175. Seine Fraktion hat gemeinsam mit Grünen und Linken im Bundestag eine Initiative dafür gestartet (queer.de berichtete). Erreicht werden soll damit, dass Menschen, die homo- bi- oder transsexuell sind, vor Diskriminierung besser geschützt werden. Das solle "das Grundgesetz unmissverständlich im Wortlaut garantieren", sagte Brandenburg. Die für diese Verfassungsänderung notwendigen Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat müssen aber noch organisiert werden.

"70 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes muss darin endlich auch die letzte von den Nationalsozialisten verfolgte Gruppe explizit genannt werden", sagte die queerpolitische Sprecherin der Grünen Ulle Schauws. Die Ehe für alle sei ein wichtiger Meilenstein gewesen. "Ich bin auch hier optimistisch, dass wir mit einer Mehrheit – auch dank des politischen Drucks und Unterstützung der Zivilgesellschaft – diesen Punkt bald in Artikel 3 stehen haben werden." (cw/dpa)

#1 stephan
  • 10.06.2019, 15:14h
  • Wie lange das gedauert hat ... 1898 hatte August Bebel als Vorsitzender der SPD-Fraktion im Reichstag den ersten Antrag zur Streichung des §175 StGB gestellt Und dass die Union heute immer noch gegen die Aufnahme des Merkmals der sexuellen Identität ist, setzt das Verbrechen dieses Staates fort. Es ist immer noch der gleiche Fußtritt der Ewiggestrigen!
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#2 zundermxeAnonym
  • 10.06.2019, 20:16h
  • Antwort auf #1 von stephan
  • Die Ewiggestrigen, insbesondere die neuen Ewiggestrigen, sind natürlich ein Hindernis. Dies könnte aber durchaus fix überwunden werden.

    Das Problem im Sinne von demokratischen Mehrheiten liegt bei der leider viel zu großen Egal- und Spasspartei, die sich durch fast alle politischen Parteien, Gesellschaftsgruppen und -schichten zieht.
    Die Harmonie-süchtige, Konsum-eifrige und auf biederen Anstand bedachte Gute-Bürger*innen-Fraktion.

    Toleranz, Offenheit und Gleichstellung?!
    Klar, von mir aus.
    Klimawandel stoppen?
    Klar, die Politik soll machen.
    Aber ich, ich kann doch gar nichts bewirken.
    Was dafür tun - sich gar einsetzen?
    Nö, lass mal lieber.

    Wieso erzeugt Demokratie so viel Lethargie?

    Wer was will, muss auch was einsetzen.

    Denke die klare Meinung und die Einstellung, wie wichtig es ist zu kämpfen bis eine unumstößliche rechtliche Gleichstellung erfolgt ist, teilen im Mittel eher die unter uns, die vor dem Fall des 175er ihr queers Leben gelebt haben und wissen, dass was sich selbstverständlich anfühlt verteidigt und verdient werden will.

    Die Opfer nicht vergessen zu lassen und zu gedenken bedeutet auch Gegenwart und Zukunft
    zu gestalten.

    Freue mich sehr, dass der 175er (wenn auch erbärmlich spät) im Nachwirken von 89 dann 94 abgeschafft wurde.

    Freue mich aber aktuell noch viel mehr über die jüngste Generation, die Politik und Gesellschaft zum Schwitzen bringt.
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#3 globo
  • 10.06.2019, 21:53hBerlin
  • Erst die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten an der Bundesregierung brachte eine wesentlich Entschärfung des §175.
    CDU/CSU und auch FDP hatten in rd. 20 Jahren Regierungszeit (1949 bis 1966) keinen Anlass gesehen die Verfolgung Schwuler zu beenden.
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