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Deutschland Gewalt gegen Homosexuelle

Schläge, Tritte, fliegende Biergläser

Klaus Rauschning zum Thema Homophobe Angriffe auf ihn. Hier an seiner Arbeitsstelle an der Havel Klaus Rauschning zum Thema Homophobe Angriffe auf ihn. Hier an seiner Arbeitsstelle an der Havel
Klaus Rauschning: „Wenn ich mir die Meldungen der Polizei so anschaue, wird mir schlecht“
Quelle: Amin Akhtar
Die Liste der Gewalttaten gegen Schwule und Lesben in Berlin ist lang, die Zahl der Angriffe steigt kontinuierlich. Doch körperliche Angriffe sind nur eine Facette des offenen Hasses gegen LGBTI-Personen in der Hauptstadt.

Klaus Rauschning traf es in einer Berliner Gaststätte. Es war spät abends, er kam von der Arbeit und wollte noch einen Absacker trinken. Eine befreundete Kellnerin war gerade dabei, eine Gruppe aggressiver Gäste hinauszubitten. Als Rauschning ihr helfen wollte, richtete sich die Aggression eines der Männer plötzlich gegen ihn. „Ich bekam Schläge ins Gesicht und Tritte in die Weichteile“, erinnert sich der 54-Jährige. „Alles begleitet von Sätzen wie ‚Gestern beim CSD noch die große Fresse gehabt, und jetzt bekommst du, was du verdienst, du schwule Sau‘.“ Am Ende sei sein Hemd komplett zerrissen, die Oberarme durch die Schläge blau, violett und schwarz verfärbt gewesen. Die linke Gesichtshälfte geschwollen. Der Täter konnte unerkannt entkommen.

Benjamin Höchel wurde in Kreuzberg angegriffen. Ein betrunkener, aggressiver Mann, der ihn als Schwulen erkannt habe, sei aus einem U-Bahnaufgang gekommen, sagt der 37-Jährige. „Er fixierte mich, beschimpfte mich, ich solle mich verpissen, und sagte irgendwas Unverständliches mit ‚deine Mutter‘. Dann stieß er mich zu Boden.“ Daraufhin sei der Angreifer wieder im Aufgang verschwunden.

Es sind nur zwei Fälle einer Serie von Übergriffen gegen Schwule, Lesben und Transpersonen in Berlin. Am vergangenen Sonntag wurde ein 22-Jähriger in der Hauptstadt homophob beleidigt und angegriffen. Stunden später wurden zwei Spaziergänger in Berlin-Mitte von einem Unbekannten geschlagen. Eine Woche zuvor wurde ein Mann im Drag-Outfit von zehn Personen bedrängt und beleidigt, dann geschlagen und mit einem Bierglas und einer kleinen Holzbank beworfen. Im Juni verprügelte ein Mann ein lesbisches Paar an einem Imbiss. Die Liste der Vorfälle in der Hauptstadt ist lang.

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Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Berlin ist die Zahl der eingeleiteten Verfahren mit LGBTI-Bezug seit 2015 kontinuierlich gestiegen. Gab es 2015 noch 97 Verfahren, waren es 2018 insgesamt 261. Diese Zahlen bilden allerdings nicht die Taten ab, die entweder nicht zur Anzeige gebracht wurden oder unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Bei der Polizei wurden 225 Straftaten im vergangenen Jahr angezeigt. Dem schwulen Anti-Gewalt-Projekt „Maneo“, das unter anderem ein „Überfall-Telefon“ für Betroffene betreibt, wurden 2018 382 Übergriffe gemeldet. Im Gespräch mit dem RBB wies „Maneo“-Chef Bastian Finke im Mai dieses Jahres auf Probleme bei der Erfassung hin. Es gebe Transpersonen, die erzählten, sie müssten jeden Tag eigentlich drei Fälle melden. Doch sie machten es nicht, „einfach aus Erschöpfung“.

Bei der Berliner Staatsanwaltschaft sind Oberstaatsanwältin Ines Karl und Staatsanwalt Markus Oswald die Ansprechpersonen für queere Menschen. Sie nehmen Strafanzeigen auf, beantworten Fragen zum Strafverfahren, stellen den Kontakt zum Landeskriminalamt und zu Hilfsorganisationen her. „Bei älteren Betroffenen führt die Erinnerung an die Kriminalisierung von Homosexualität und die entsprechende Strafverfolgung zu Misstrauen und einer geringen Anzeigebereitschaft“, sagt Ines Karl auf WELT-Anfrage. Für Jüngere sei das nicht mehr so relevant. Aber dennoch sprächen sich negative Erfahrungen eher in der Community herum als positive. So entstünden Vorbehalte gegen die Behörden, etwa die Angst, nicht ernst genommen zu werden.

Berlin leistet Pionierarbeit

Als europaweit einzige Strafverfolgungsbehörde verfügt die Staatsanwaltschaft Berlin seit 2012 über eine Sonderzuständigkeit für Hasskriminalität gegen LGBTI-Personen. Damit folgt sie dem Beispiel der Berliner Polizei, bei der es seit mehr als 20 Jahren eine entsprechende Stelle gibt.

Dass viele Betroffene von einer Zunahme von Aggressivität seit dem Flüchtlingszuzug 2015 berichten, ist auch den Staatsanwälten nicht entgangen. Karl sagt: „Natürlich sind unter den neu Zugereisten viele Menschen, denen nicht bewusst ist, dass in Deutschland mitunter völlig andere Maßstäbe und Wertvorstellungen herrschen als in den Ländern, aus denen sie geflohen sind. Das kann zu verstärkten Übergriffen führen.“ Aber auch queere Flüchtlinge selbst würden immer wieder zu Opfern.

Körperliche Angriffe sind nur eine Facette des offenen Hasses gegen LGBTI-Personen in der Hauptstadt. Zum vierten Mal in neun Wochen haben Unbekannte Anfang der Woche das Mahnmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen im Tiergarten beschädigt. Seit seiner Einweihung 2008 ist das Denkmal immer wieder Ziel von Farbschmierereien geworden. Auch die Gedenktafeln, die an die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung erinnern, sind in dieser Woche wieder einmal zerstört worden. Zudem sprühte jemand in diesem Sommer über Wochen hinweg den Spruch „Schwule sterben aus“ an verschiedenen Orten in Berlin an Wände.

„In meinen 54 Lebensjahren hab ich einiges an Homophobie erlebt“, sagt Klaus Rauschning. Seit er 17 Jahre alt ist, lebt er offen schwul. Damals sei es noch schwieriger als heute gewesen: „Einer meiner Arbeitgeber nannte schwule Männer nur ‚AIDS-Bande‘.“ Heute merke er, dass sich die Diskriminierungen wieder häuften. Zwar habe sich die Gesetzeslage zum Positiven geändert, in den Köpfen vieler Menschen sei dies aber nicht angekommen. „Wenn ich mir die Meldungen der Polizei so anschaue, wird mir schlecht.“ Benjamin Höchel findet hingegen, die Situation sei nicht schlimmer geworden. Er wohne seit 14 Jahren in Kreuzberg. „Ich habe mich hier immer recht sicher gefühlt und fühle mich noch sicher.“

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Ein Vergleich mit anderen Großstädten oder Regionen ist fast unmöglich, sagt Markus Ulrich vom Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD). Berlin sei bei der Erfassung LGBTI-feindlicher Vorfälle zwar vorbildlich, stehe damit aber relativ allein da. Vergleichbare Strukturen gebe es in Städten wie Köln, Hamburg oder München nicht. Das führe zu verzerrten Statistiken. „Das Innenministerium nennt für Gesamtdeutschland eine Zahl von 353 erfassten Straftaten im Jahr 2018“, sagt Ulrich. Die 225 registrierten Delikte aus Berlin würden dazugezählt. „Das würde bedeuten, dass etwa zwei Drittel aller Straftaten in Berlin begangen werden, was nicht realistisch ist.“

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Der LSVD dringt auf eine Schließung der Forschungslücke durch eine korrekte Erfassung und Erwähnung entsprechender Vorfälle in allen Polizeiberichten. „Wir fordern schon lange, dass Straftaten gegen Homosexuelle in den Innenministerien der Länder endlich ernst genommen werden“, sagt Ulrich. Auch sollten Polizeibeamte für das Thema sensibilisiert werden. „Das würde zu einer höheren Anzeigebereitschaft führen.“

Die Zahlen der Staatsanwaltschaft Berlin zeigen auch, wie gering die Chance auf eine Verurteilung von Tätern ist. Von den 261 Verfahren, die im vergangenen Jahr eingeleitet wurden, konnten in 152 Fällen Verdächtige namhaft gemacht werden. In 109 Fällen gelang dies nicht, was in der Regel eine Einstellung des Verfahrens nach sich zieht. 2017 konnten in 146 Fällen Verdächtige ermittelt werden, 98 Mal nicht.

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