50 Jahre Entschärfung Paragraf 175: „Das Leben vieler Schwuler massiv beschädigt“

BILD spricht mit dem ehemaligen Bundesanwalt Manfred Bruns (85)

Manfred Bruns (85) ist ehemaliger Bundesanwalt und war Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland

Manfred Bruns (85) ist ehemaliger Bundesanwalt und war Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland

Foto: Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)
Von: Roman Scheck & Karsten Utess

Wenn man in Deutschland über den sogenannten Schwulenparagrafen 175 und seine Auswirkungen reden möchte, kommt man an ihm nicht vorbei: Manfred Bruns (85). Er gilt als einer der Väter des 2017 eingeführten Rehabilitierungsgesetzes.

► Bis der offen schwul lebende, ehemalige Bundesanwalt 1994 pensioniert wurde, arbeitete er am Bundesgerichtshof in Karlsruhe und trug entscheidend dazu bei, dass 1994 der Paragraf 175 auch in der vereinten Bundesrepublik endgültig abgeschafft wurde.

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BILD bat den ehemaligen Bundesanwalt anlässlich des 50. Jahrestags der Änderung des Unrechtsparagrafen am 1. September zum Interview.

BILD: Herr Bruns, warum wurde der Paragraf 175 erst nach 112 Jahren abgeschafft? Manfred Bruns: „Die Abschaffung des Paragrafen 175 haben wir der DDR zu verdanken. Das war ein Produkt der Wiedervereinigung. In der DDR war der Paragraf 175 schon 1968 durch den Paragrafen 151 ersetzt worden, der sich nur auf gleichgeschlechtliche Handlungen mit Jugendlichen bezog und für beide Geschlechter galt. Und auch der wurde schon 1988 ersatzlos gestrichen. Die Runden Tische haben durchgesetzt, dass diese Regelung erhalten blieb. Deswegen galt nach der Wiedervereinigung einige Jahre gespaltenes Recht: In Westberlin konnte man bestraft werden, in Ostberlin nicht. Das war ein unhaltbarer Zustand, der für meine Begriffe vor allem deswegen weiter über Jahre Bestand, weil die CDU/CSU sich weigerte, daran etwas zu ändern.“

2002: Bruns bei einem Verfahren zum Lebenspartnerschaftsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

2002: Bruns bei einem Verfahren zum Lebenspartnerschaftsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Foto: picture alliance / Associated Pr

Warum gab es den Paragrafen 175 in der BRD im Gegensatz zur DDR überhaupt noch? Bruns: „Die einvernehmliche Sexualität unter Männern wurde 1969 in der BRD legalisiert. Allerdings blieb der 175er bestehen, angeblich um die Jugend zu schützen. Dahinter stand die Vorstellung, dass erwachsene Männer männliche Jugendliche ,beeinflussen‘ könnten. Erst so würden sie angeblich zu Homosexuellen gemacht. Das ist natürlich Unfug. Und war es auch schon immer! In unseren Nachbarländern gab es ja schon lange keine Strafbarkeit mehr – und auch nicht mehr oder weniger Homosexuelle als bei uns.“

Sie haben sich 1983 offen zu Ihrer sexuellen Orientierung bekannt. Welchen Einfluss hatte das auf ihre Karriere? Bruns: „Eigentlich hatte mein Coming-out gar keinen Einfluss mehr auf meine Karriere. Ich war da schon Bundesanwalt, höher geht es kaum. Allerdings entschied mein Chef, Generalbundesanwalt Kurt Rebmann (†80), dass ich mich bei meiner Tätigkeit nicht mehr mit Staatsschutzangelegenheiten beschäftigen dürfte. Eine ,abweichende sexuelle Orientierung‘ galt als Sicherheitsrisiko. Man hätte erpresst werden können. Das galt für mich nach meinem Outing aber nicht mehr. Es wussten ja alle Bescheid! Ich habe immer gesagt: ,Es gibt hier Kollegen, die heimlich aus ihrer Ehe ausbrechen, die sind vielleicht erpressbar, ich nicht!‘ Im Nachhinein wurde diese Vorschrift wegen meines Falles geändert und gilt heute nicht mehr.“

Die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e.V. (BISS) hat eine kostenfreie Hotline für nach Paragraf 175 verurteilte Homosexuelle eingerichtet, berät auch zu Entschädigungszahlungen

Die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e. V. (BISS) hat eine kostenfreie Hotline für nach Paragraf 175 verurteilte Homosexuelle eingerichtet, berät auch zu Entschädigungszahlungen. Hier wird sie von (v.l.) BISS-Vorstandsmitglied Georg Härpfer, Bundesministerin Franziska Giffey, dem Rehabilitierten Klaus Schirdewahn und BISS-Mitarbeiter Marcus Velke vorgestellt

Foto: BMFSFJ

Warum gibt es so wenige schwule Männer, die sich für ihre Verurteilung nach Paragraf 175 entschädigen lassen? Bruns: „Wir haben nie geglaubt, dass es sehr viele Männer geben wird, die klagen werden. Uns war auch bewusst, dass die Summen, die dabei rauskommen würden, sehr klein sind. Die Allermeisten der Betroffenen haben mit diesen schlimmen Geschichten abgeschlossen. Sie wollen das alles nicht noch einmal aufrollen. Aber es war wichtig, dass mit dem Gesetz festgestellt wird, dass die Bundesrepublik über viele Jahrzehnte Unrecht und Schuld auf sich geladen und das Leben vieler schwuler Männer massiv beschädigt hat. Es geht, wie Bundesjustizminister Heiko Maas sagte, um ,einen späten Akt der Gerechtigkeit‘.“ Mehr LGBTQ-News gibt’s auf Facebook – jetzt Queer BILD folgen.

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