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21.11.2020
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Guten Morgen aus Südtirol!
"Ach, Europa!" Dieser Satz dürfte in den vergangenen Monaten überdurchschnittlich häufig - und ausnahmsweise nicht wegen des Krümmungswinkels von Salatgurken - zu hören gewesen sein. Die derzeitige Situation mit all ihren Grenzschließungen und Einreiserestriktionen führt uns deutlich vor Augen, wie fragil das "Haus Europa" ist.

"Ach, Europa!" ist aber auch der Titel von gleich zwei hochinteressanten Büchern zweier nicht weniger interessanter Schriftsteller - Hans Magnus Enzenberger und Jürgen Habermas. Ersteren schätze ich für seinen inspirierenden literarischen "Zickzackkurs" (wie es die Neue Zürcher Zeitung einmal nannte). Letzteren tatsächlich für die vielen (und langen) Stunden über seinen Texten während meines Studiums, noch viel mehr aber für die Erkenntnis, dass er - Jürgen Habermas - in ruhigen Minuten doch tatsächlich zur banalen Bildzeitung greift. Auch dahinter steckt also manchmal ein kluger Kopf.

Passend zum Wochenende daher ein kleiner Versuch über zwei Bücher zur Zeit. Oder anders formuliert: Eine doppelte Leseempfehlung.

Viel Spaß damit und Euch ein schönes Wochenende,
Benjamin und Johanna
Ein kritischer Habermas über einen euphorischen Enzensberger
"Von Enzensbergers Lobgesang auf die europäische Vielfalt ... bleibt heute nur noch der seufzende Ton."
Und Enzensberger über den Modellcharakter Italiens für Europa
"Das Modell Italien ... ist ein unkalkulierbarer, produktiver, phantastischer Tumult!"
Egal ob am Brenner oder (wie auf unserem Foto oben) in Rudbøl zwischen Dänemark und Deutschland: "Ach, Europa!"
Hastig errichtete Straßensperren, Verbotsschilder, dazu eine Videokamera (und ein von Ortskundigen gut frequentierter Feldweg - vermutlich als Akt zivilen Ungehorsams - um all diese Absperrungen herum). Ein bisschen "Mauerfeeling" kam schon bei uns auf, als das Bild im Sommer entstand. Etwas weniger Beton, dafür mehr Bürokratie in Form von Eigenerklärungen braucht es aktuell am Brenner zwischen Italien und Österreich. Die Liste der Einschränkungen ließe sich weiter fortführen. 

Wie gut, dass Hans Magnus Enzensberger 1989 in acht Szenen literarisch durch Europa gestreift ist. Und das menschliche, das nahbare, auch das skurrile Europa erlebt und beschrieben hat. Vom "Schwedischen Herbst" und den "Polnischen Zufällen" berichtet er. Von den Absurditäten in den wirren Gängen der U-Bahn unter dem Mailänder Dom und den magischen Praktiken der Madrider Gesellschaft. Die kleinen Stücke machen Lust auf ein grenzenloses Europa, auf die vielen Möglichkeiten, die mit ihm verbunden sind. 

Ganz anders dagegen Jürgen Habermas. Ernst berichtet er in seiner Reden- und Aufsatzsammlung von Europa. 2006 spricht er von der gefährlichen "Rückwendung zum Nationalstaat" - ja, dieser Ausspruch hätte auch gestern oder vorgestern fallen können! Geradezu tagesaktuell ist seine Diagnose der politischen Kommunikation, von kommunikativen "Schachzügen" ist da die Rede, von sinkendem Vertrauen ins Politische durch elektronische Mediennutzung. Geschrieben noch weit vor dem ersten Smartphone.

In der Tat: Die beiden Autoren haben sich eine Menge zu sagen, sie korrespondieren über viele Seiten hinweg. Da der berauschte Europafan, der auf Entdeckungsreise geht. Dort der Denker, der Skeptiker, der Warner und Mahner. Ein wunderbares literarisches Duo für ein Wochenende!
Zum Weiterlesen
Gleicher Titel, gleicher Verlag, zwei Autoren:

Jürgen Habermas
Ach, Europa
edition suhrkamp 2551
191 Seiten - 14,00 €

Hans Magnus Enzenberger
Ach Europa!
suhrkamp taschenbuch 1690
501 Seiten - 15,00 €


Coverfotos: (c) Suhrkamp
 
Bis morgen, wir lesen uns!
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