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Der Kultur-Südtirol-Adventskalender
Samstag, 11.12.2020
Mit KulturSüdtirol durch den Advent:
"Hättet Ihr gewusst ...?"
Hättet Ihr gewusst, welch turbulente Geschichte so manches Schutzhaus erzählen kann?

In diesem Fall ist es das Radlseehaus in den Sarntaler Alpen. Das erste Schutzhaus am sagenumwobenen Radlsee wurde von einem Privatmann erbaut. Seine Geschichte erzählt von den Träumen der Erbauer und vom Durchhaltevermögen einer Hüttenwirtin. Vielleicht hat die einzigartige Aussicht dort oben hoch über Brixen den Menschen auch damals schon Halt und Zuversicht gegeben? 

Viele Grüße,
Johanna und Benjamin
Einst Sommer wie Winter geöffnet: das Radlseehaus
Hoch über der Stadt Brixen, am östlichen Ausläufer der Sarntaler Alpen, liegt am Fuße der Königsangerspitze eingebettet in eine Mulde der sagenumwobene Radlsee. Nur wenige Schritte weiter steht etwas oberhalb davon das aus Steinen gemauerte Radlseehaus auf 2.284 m über dem Meeresspiegel. Wer den lohnenden Aufstieg wagt, den erwartet ein einmaliger Ausblick auf die Plose und den Peitlerkofel, auf die Villnösser Geisler, aus Lang- und Plattkofel, auf den Schlern und die dahinter liegenden Gletscherspitzen. An dieser Stelle musste ein Schutzhaus gebaut werden.
 
Die Anfänge des Radlseehauses (1911–1918)
Anton Mayr (1879–1918), Tapezierermeister aus Brixen, begann im Jahr 1911 mit dem Bau eines privaten Schutzhauses am Radlsee, das er zusammen mit seiner Frau Maria (1880–unbekannt) führen wollte. Ein Traum, der nicht lange währte. 

Doch zunächst verlief alles wie geplant. Bereits im Sommer 1912 war der aus Steinen gemauerte Bau so weit gediehen, dass er bewirtschaftet werden konnte. 
Im Frühling 1913 öffneten die Wirtsleute trotz des Schneefalls bereits für die Osterfeiertage. Ostern fiel auf den besonders frühen Termin des 23. März. Der Weg zum Schutzhaus wurde mit einem Schneepflug soweit geräumt, dass Wanderer sicher an ihr Ziel kamen. Am Karsamstag Abend erwartete sie dort ein Feuerwerk. Knapp zwei Wochen später war das Radlseehaus fast schneefrei, und Temperaturen von 21° C in der Sonne lockten zahlreiche Wanderer in die Höhe, die sich, wie die Brixener Chronik berichtete, über den „Fortschritt der Bauarbeiten und die hübsche Inneneinrichtung der Hütte“ freuten. Die feierliche Eröffnung des neu erbauten Schutzhauses fand im Oktober 1913 statt. 

Das Radlseehaus fand von Anfang an regen Zuspruch bei den Bergfreunden. Auf markierten Wegen erreichten Wanderer das Schutzhaus damals in viereinhalb bis sechs Stunden von Brixen, Vahrn und Klausen aus. Bereits vor dem Bau des Schutzhauses hatte es markierte Wanderwege zum Radlsee gegeben, beispielsweise von Bad Schalders steil bergauf durch das Arzvenntal oder von Brixen über Tils und über den Feichterhof. Den Weg von der Klausner Hütte zum See legte im Jahr 1913 Benjamin Valazza, Bergführer und Pächter der Klausner Hütte, an: Dieser zählte „mit dem brillanten Blick auf die Dolomiten und die Gletscherberge [zu den] genußreichsten Touren in den Alpenregionen“.

Auch für den florierenden Wintersport rund um Brixen war das Radlseehaus von Bedeutung. Es entwickelte sich zu einem beliebten Stützpunkt für Schitourengeher. Wie die benachbarte Klausner Hütte war es im Winter 1913/14 geöffnet. Die Zeitungen berichteten während der Wintermonate immer wieder über die Schneelage, über die Schiverhältnisse auf die Königsanger- und Radlseespitze und die Gangbarkeit der einzelnen Wege. Schlittschuhläufer frönten auf dem zugefrorenen Radlsee ihrem Vergnügen.

Die Sommersaison 1914 war von kurzer Dauer. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete die Bergsaison: Gäste blieben aus, Hüttenwirte und Bergführer wurden an die Front gerufen. Das Radlseehaus blieb während der Kriegsjahre von Plünderungen und kriegsbedingten Zerstörungen weitgehend verschont. Weitaus weniger Glück hatte jedoch sein Erbauer Anton Mayr: Er fiel am 24. Oktober 1918 an der Dolomitenfront.

 
Das Radlseehaus zwischen den Weltkriegen
Maria Mayr, Kriegswitwe, konzentrierte sich in der prekären wirtschaftlichen Situation nach Kriegsende ganz auf die Bewirtschaftung des Radlseehauses. In den 1920er und frühen 1930er Jahren bewirtschaftete sie ihr Schutzhaus ausschließlich im Sommer, und zwar meistens von Anfang Juni bis Ende September. Den Gästen standen 18 Betten und ein gemeinsamer Schlafraum für zehn Personen zur Verfügung. Dank der Zweibettzimmer eignete sich das Radlseehaus auch für eine längere Sommerfrische und zur Höhenkur.

Doch der Bergtourismus erholte nur langsam. Die Gästezahlen reichten bei Weitem nicht an jene der Vorkriegsjahre heran. Vor allem die Gäste aus dem Ausland blieben aus, und die italienischen Bergfreunde konzentrierten sich hauptsächlich auf die Dolomiten. Die Schutzhütten in anderen Bergregionen wurden fast ausschließlich von einheimischen Wanderern besucht.

Im Winter 1934/35 war das Schutzhaus erstmals seit mehr als zwanzig Jahren auch in der kalten Jahreszeit geöffnet. Maria Mayr warb im Kleinanzeiger der Dolomiten mit „geheizte[n] Zimmer[n]“ und der „vorzügliche[n] und billige[n] Verpflegung“. Nach wie vor eigneten sich die Almen rund um den See bis hin zur Klausner Hütte vortrefflich für den Schisport.

Doch das Jahr 1939, das Europa den Beginn des Zweiten Weltkriegs und Südtirol die so genannte Option, also die Entscheidung zwischen einer Auswanderung ins Deutsche Reich oder dem Verbleib in Italien, brachte, war nicht mehr weit. Maria Mayr, die Radlseewirtin, entschied sich im Dezember 1939 für Deutschland und verließ im Herbst 1940 ihre Heimat. Das Radlseehaus ging in den Besitz der Ente per le Tre Venezie über. Es wurde vernachlässigt und fiel schließlich Brandstiftung zum Opfer. Bei Kriegsende 1945 stand vom einst stattlichen Schutzhaus nur mehr eine karge Ruine.

Das heutige Radlseehaus, errichtet von der Sektiopn Brixen des Alpenvereins Südtirol, wurde im Juni 1956 eröffnet.

 
Auch morgen wieder: Der KulturSüdtirol-Adventskalender.
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