180 Wörter für schießen – Seite 1

Früher, in Zeiten des analogen Fernsehens, waren Kommentatoren so bekannt, weil es kaum welche gab. Das Angebot an Livesport war begrenzt, der Bedarf an Kommentatoren ebenso: Die, die da waren, waren somit stilprägend. Schon der Name Werner Hansch beschwört dessen Stimme herauf. Bela Réthy und Marcel Reif teilen das Land noch heute fein säuberlich in Befürworterinnen und Nörgler. Es folgten Frank Buschmann, Wolff-Christoph Fuss, sie alle prägen den deutschen Stil.

Der galt lange Zeit als unterkühlt. Fußball-WM-Finale 1974: Deutschland führt kurz vor Schluss 2:1 gegen die Niederlande. Nach einem Steilpass schlägt der niederländische Linksaußen eine Flanke scharf vor das Tor, wo sein Sturmpartner den Ball volley nimmt. Sepp Maier im Tor pariert spektakulär. Rudi Michel behält für die ARD die Contenance: "Krol… Van de Kerkhof … Ohhhhh!"

Heute, die Digitalisierung macht's möglich, wird fast jede Partie jeder Fußballliga per Stream übertragen. Sportarten wie Basketball, Handball und Beachvolleyball erobern sich via Internet – endlich – ihren Platz. Mehr Spiele, mehr Kommentatoren. Sodass sich mehr denn je Fragen stellen: Was macht einen guten Kommentar im digitalen Zeitalter aus? Und warum braucht es ihn überhaupt? Man sieht ja, wie LeBron James dunkt, Naomi Osaka returnt und Thomas Müller müllert. Warum also nicht besser auf stumm schalten? Theaterstücke und Plenarsitzungen werden schließlich auch nicht kommentiert und wenn doch, dann ist es Comedy.

Gisbert Wundram ist Gründer des Spartenkanals Sportdigital, den viele vom Durchzappen und die unerschütterlichsten der Fußballfans wegen seiner enormen, nischig internationalen Vielfalt kennen. Es gibt die südkoreanische Liga zu sehen, die argentinische, die polnische. "Der Markt hat sich wahnsinnig entwickelt: Wir übertragen über 700 Spiele live pro Jahr", sagt Wundram.

Für die Masse an Übertragungen fehlt es jedoch an Kommentatorinnen. "Den Beruf des Sportkommentators gibt es so gar nicht. Das ist kein Ausbildungsberuf." Wundram rief als Mitbegründer deswegen 2018 die kostenlose Probierplattform Commentaro nebst einer Art zahlungspflichtigem Kommentarbootcamp ins Leben, bei denen auch Spiele von Sportdigital live eingesprochen werden. "Die meisten Kommentatoren sagen, sie seien in ihren Beruf so reingerutscht: über Beziehungen oder Versuche in Praktika oder Volontariat." Wundrams Plattform ist eine der wenigen systematischen Wege hinter das Kommentatorenmikrofon.

"Durch ein Spiel zu führen, ein Spiel zu lesen und das für den Zuschauer fachkundig aufbereiten zu können, das müssen unsere Kommentatoren leisten – egal, ob das Spiel in Brasilien oder Japan stattfindet", definiert Wundram seine Anforderungen an die neue Generation.

Dabei unterscheiden sich die Arbeitsbedingungen heute in einem Punkt ganz entscheidend: Viele Kommentatoren sind nicht vor Ort. Sie sitzen fern der Arenen im abgedunkelten Kämmerlein mit Bildschirm und Headset. In ihrer Box entfernen sich die Kommentatoren, ganz räumlich gesehen, vom Fan und Spielgeschehen. "Früher saß man im Stadion, konnte sich austauschen, die Atmosphäre des Spiels inhalieren, Stimmung rüberbringen", sagt der Sportdigital-Chef Wundram. "Das war authentisch."

Diese Zeit ist vorbei. Der Kommentator wird abhängig vom gelieferten TV-Bild, wie eine der wenigen wissenschaftlichen Abhandlungen zu dem Thema zeigt. So könnten ihm Scharmützel abseits des Balles oder taktische Ränkespiele jenseits der Linse entgehen. Wolf-Dieter Poschmann, lange in Diensten des ZDF, vermerkt in der Arbeit von Thomas Robert Nief deterministisch: "Ich spreche jedem die Fähigkeit ab – selbst Experten –, ein Spiel nur nach Fernsehen zu beurteilen."

Im schlimmsten Fall leidet der Kommentator gar unter politischer Willfährigkeit: Das Publikum ist elektrisiert von Anti-Super-Champions-League-Bannern? Unruhe bei Olympia, denn iranische Frauen protestieren für ihr Recht, Sport in Stadien zu verfolgen? Die Uefa und das IOC liefern manchmal diese Bilder gar nicht erst, sie sind ihnen zu unsportlich. Die moderne Streamingkommentatorin in ihrer Box ist da macht- und konsequenterweise sprachlos. Sie ist, wortwörtlich, berufsblind.

Der deutsche Kommentarstil hat sich auch mit voller Sicht dramaturgisch festgefahren. Die Autoren und Storyanalysten Katti Jisuk Seo und Mark Wachholz nehmen ihn in einem Essay zum Fußball-WM-Halfinale 2014, Deutschland gegen Brasilien, geradezu auseinander, attestieren ihm gar eine pathologische Rückwärtsgewandtheit – besonders im Vergleich zu englischen BBC-Kollegen.

Schießt Rahn oder schießt er nicht?

Der englische Kommentar agiere mutig, sei bereit, logisch geschlossen zu interpretieren – und so Spannung aufzubauen. Der bekannteste Spannungsmoment der deutschen Fußballkommentargeschichte beginnt mit "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen …" von Herbert Zimmermann zum WM-Sieg 1954 – war allerdings ein Radiokommentar. Für seine Emotionalität musste Zimmermann sich überdies entschuldigen. Aber er interpretierte situativ mutig und warf somit spannungsgeladenes Kopfkino an: Schießt Rahn oder schießt er nicht? Gut, dass er es doch getan hat.

Jisuk und Wachholz zufolge regierten bei deutschen Kommentatoren statt Mut spröde Statistiken, Anekdoten und das Aufzählen von Spielernamen. Wichtiger aber noch: Dem deutschen Kommentar fehlten stringente Narrative und die Fähigkeit, Partien in höhere thematische Konflikte einzuordnen, deren Auflösung ein Fan entgegenfiebert.

2014 adaptierten die BBC-Kommentatoren das 1:7 der Brasilianer gegen die Deutschen nach und nach wie in einer Netflix-Serie  – vom heroischen Druck des WM-Siegs im eigenen Lande über den Charaktertest bis hin zur Rettung des Stolzes –, während sie die Performance der Seleção in ein Ringen zwischen Ordnung und Chaos einbetteten.

Die deutsche Sprödheit wird im Digitalzeitalter nun von etwas anderem abgelöst: Entertainment. Vorbei ist es mit Michels Zurückhaltung von 1974, es werden gern und viel heitere Bemerkungen eingestreut. Frank Buschmann ("Am Ende kackt die Ente!"), Buschi genannt, ist der bekannteste Vertreter dieses Stils. Der muss nicht schlecht sein, er unterhält eben.

Schlecht ist er nur, wenn er platt ist, wie in der "Sushi"-Debatte um den Kommentatoren Jörg Dahlmann oder in der Causa "Flughafentower" des Beachvolleyballexperten Alexander Walkenhorst. Fälle, die sicher nicht rassistisch oder sexistisch gemeint waren, aber in dem Drang nach flapsiger Ungewöhnlichkeit dann doch so wirkten.

Vielleicht kann so immerhin ein anderes Phänomen eliminiert werden: die Stanzen. Kommentatoren dreschen Unmengen von Phrasen, wie Simon Meier-Vieracker, Professor für angewandte Linguistik mit Fußballschwerpunkt an der TU Dresden, in seinem Podcast analysiert. "Damit das nicht auffällt, gibt es eine riesige Palette an Vokabular, um die Schablonen zu füllen." Allein für das Wort "schießen" hat Meier-Vieracker in geschriebenen Sporttickern etwa 180 verschiedene Alternativen gefunden. Dreschen. Nageln. Wammsen. Trümmern. Trüllern. "Die stehen nicht nur für verschiedene Schusstechniken, da steckt die Dramatik drin, die wie er alle hören und sehen wollen", sagt Meier-Vieracker.