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Hate Speech in der Antike: „Man muss dann aber wirklich virtuos sein“

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Die mutmaßlich älteste Büste Cäsars.
Die mutmaßlich älteste Büste Cäsars. © AFP

Beleidigungen sind keine Erfindung von Sozialen Medien wie Facebook oder Twitter. Der klassische Philologe Dennis Pausch über Diskriminierung im Wandel der Zeit und warum Bushido es in der Antike einfacher gehabt hätte.

Herr Pausch, der Innenminister eines EU-Landes hat kürzlich angedroht, ein hohes Mitglied der EU-Kommission als „Schwein“ zu bezeichnen. Die Empörung folgte. Hätte das in der Antike auch für Aufregung gesorgt?

Diese Beleidigung hätte wahrscheinlich auch in der Antike funktioniert. Sie entstammt aber nicht den typischen Kategorien. Tiere gehörten in der Antike nicht zur gängigsten Form der Beleidigung, aber es wäre verstanden worden, dass damit eine Herabsetzung gemeint ist.

Welche Schimpfwörter nutzte denn die Antike?

Allgemein gesprochen gibt es zwei Kategorien. Wir kennen zum einen moralische Verfehlungen, also alles, was Richtung Dieb, Schurke und Betrüger geht. Den anderen großen Bereich bilden Abweichungen von dem, was die Mehrheit als sexuelle Norm empfunden hat. Das gilt interessanterweise für Frauen und Männer gleichermaßen. Uns sind sexuelle Herabwürdigungen auch nicht ganz fremd, aber quantitativ sind sie in der Antike schon bedeutender. Ein Feld, auf dem sich das gut untersuchen lässt, sind die erhaltenen Graffiti von Pompeji. Da spielen sexuelle Herabwürdigungen eine überraschend große Rolle.

Nehmen wir ein Beispiel: „Schwuchtel“ als Herabsetzung ist nicht neu, die Römer übernehmen die Schmähung aus Griechenland. Worin konkret bestand die Herabsetzung?

Heute würden wir den Ausdruck aus guten Gründen ablehnen. Aber die Vorstellung der Antike lässt sich gut an einem Gedicht Catulls ablesen, in dem er Cäsar sexuell konnotiert beleidigt. Die Diskriminierung bestand in der Zuschreibung der passiven Rolle in einer Beziehung. Da werden männliche Stereotype wie Dominanz oder die „Hosen anhaben“ gefordert. Es wird also nicht allgemein die sexuelle Orientierung thematisiert, sondern die Unterordnung in einer Beziehung. Diese Beleidigungen funktionierten daher damals offenbar besonders gut. Mit dem Wandel der Männerrolle hat sich das heute in vielen Gesellschaften natürlich geändert.

Und wie funktionierte die Herabwürdigung von Frauen?

Da hat sich bis heute wenig an den Moralvorstellungen geändert. Frauen sollten am besten überhaupt nicht sexuell aktiv sein, schon gar nicht außerhalb der Ehe. Da gibt es vermutlich historisch eine große Konstante.

„Beleidigungen galten auch als eine kunstfertige Form des Umgangs mit Sprache und damit als Ausdruck von Bildung.“

Philologe Dennis Pausch

Zum Beispiel?

Die meisten Herabsetzungen von Frauen – von den Graffiti in Pompeji bis in die Dichtung eines Catull oder Horaz hinein – sind letztlich Variationen des Vorwurfs, sich mit mehreren Männern eingelassen zu haben. Das kann verschieden detailliert „ausgeschmückt“ werden, aber darauf läuft es in der Regel hinaus. Diese Eindimensionalität spiegelt natürlich auch die eingeschränkten Möglichkeiten von Frauen wider, am gesellschaftlichen Leben der Antike teilzunehmen. Das sieht man umgekehrt auch daran, dass in der Regel Männer die Zielscheibe von Schmähungen sind und es hier ein viel breiteres Spektrum von Themen gibt.

Sie beschreiben in Ihrem Buch die Beleidigung in der Antike als Kunstform. Worin liegt das Besondere?

Wir sind heute sensibler und wachsamer, was die Folgen von Beleidigungen angeht. Das Bewusstsein dafür gab es in der Antike zwar auch, im Vordergrund stand aber oft etwas anderes: die Virtuosität. Beleidigungen galten auch als eine kunstfertige Form des Umgangs mit Sprache und damit als Ausdruck von Bildung. Dabei begann die Auseinandersetzung mit Invektiven schon in der Schule, wo Rhetorik eine große Rolle spielte. Der Tadel galt in der rhetorischen Ausbildung als Gegenteil der Lobrede und wurde auch im Unterricht vermittelt. Die Invektive wurde also nicht nur als verbale Gewalt wahrgenommen, sondern auch als Kunstform.

Deutschrapper wie Bushido hätten es also in der Antike einfacher gehabt?

Das glaube ich schon. Dichter wie Catull oder Martial verfassten kurze und zugespitzte Gedichte, die in Form und Inhalt sowie den Klischees, die thematisiert wurden, sehr nah an dem sind, was heute im Deutschrap bedient wird. Das Interessante daran ist, dass das in der Antike nicht nur gelesen und geschätzt wurde, sondern auch über Jahrhunderte überliefert worden ist. Die Wahrnehmung, dass es sich bei diesen Gedichten vor allem um eine Form von Kunst handelt, zieht sich also offenbar sehr lange durch.

Sie schreiben, „nur wer von Catull gedisst wird, gehört dazu“. Im Lichte der MeToo-Debatte werden allerdings nicht nur Raptexte kritischer gesehen.

Genau, in den vergangenen Jahren hat sich unsere Wahrnehmung massiv geändert. Das zeigt sich auch daran, dass man mittlerweile zögert, die entsprechenden antiken Texte in der Schule oder der Universität zu lesen, etwa wenn wir an Ovid und seine Darstellung sexualisierter Gewalt denken. Ich bin durchaus dafür, solche Texte in der Schule zu behandeln und den Vergleich zu suchen, etwa mit dem Deutschrap. Dabei geht es ja nicht um Bewunderung, sondern gerade um die Ambivalenz solcher Texte. Das lässt sich mit antiken Beispielen sehr gut spiegeln. Die Antike hilft dann, diese Phänomene besser zu verstehen.

Dennis Pausch.
Dennis Pausch. © © Robert Jentzsch | www.rjphoto.de

Auf der Theaterbühne ging es mitunter ebenfalls derbe zu ...

Das antike Theater war populärer als viele denken, auch in dem Sinne, dass burleske Streit- und Prügelszenen zum Unterhaltungsprogramm gehörten. Davon ist leider nur sehr wenig überliefert. Aber gerade bei Plautus lassen sich viele Elemente finden, die zeigen, dass kräftige Beleidigungen auch vom Publikum als Kunstform verstanden wurden. Um mit Invektiven als Autor Erfolg zu haben, muss man dann aber wirklich virtuos sein und die gängigen Beleidigungsformen des Alltags übertreffen. Das kann durch die Neuartigkeit der Schmähungen geschehen, aber auch durch deren geradezu atemlose Aneinanderreihung.

Auch in der Politik wurde kräftig ausgeteilt. Allerdings wurde geraten, die Angriffe spontan aussehen zu lassen, warum?

Invektives Vorgehen in einer politischen Rede war erlaubt, aber die Beleidigung sollte – zumindest in der Außenwirkung – nicht als geplant erscheinen. Das hätte einen gewissen Hang zur Niedertracht symbolisiert und wäre schlecht angekommen. Die spontane Replik legt indes Schlagfertigkeit nahe. Generell gilt: Es war ein hohes Maß an aktiver und passiver invektiver Kompetenz gefordert – man muss austeilen, aber auch einstecken können. Das ist heute auch nicht anders.

Dennis Pausch

Dennis Pausch, 45, studierte Latein, Griechisch und Geschichte in Gießen. Er lehrt Klassische Philologie und Latein an der TU Dresden. Der Sonderforschungsbereich „Invektivität, Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“, gefördert vonder Deutschen Forschungsgemeinschaft, untersucht Formen und Methoden der Beleidigung in der Geschichte.

Schauen wir auf die Mittel der Delegitimierung. Cato lehnte einen Ritter wegen dessen Körperfülle ab, Nero wurde wegen seines Aussehens und angeblichen Eselsohren verunglimpft. Das ist klassisches Body Shaming, wie wir heute sagen würden.

Ich war überrascht, dass sich diese Beispiele überhaupt finden ließen. In den rhetorischen Handbüchern für die Ausbildung spielen körperliche Formen der Herabsetzung keine große Rolle. Da geht es um Herkunft, Lebensstil, Statusfragen – Sohn eines Sklaven etwa war eine klassische Beleidigung. Bei Angriffen mit Blick auf die körperliche Verfasstheit spielten in der antiken Vorstellung auch zumeist Charakterfragen eine wichtige Rolle: Zügellosigkeit etwa bei Essen und Trinken zeugte nicht von moralischer Standhaftigkeit. Es ging daher also eher um die charakterliche Eignung für ein Amt.

Sie sprechen den Lebensstil an. Schon Cäsar wurden Ausschweifungen vorgehalten. Vor einem halben Jahrhundert soll der damalige SPD-Fraktionschef Herbert Wehner über Kanzler Willy Brandt gesagt haben, der Herr bade gern lau. Warum treffen solche Vorwürfe bis heute?

Es geht bei der Debatte über den Lebensstil wohl immer wieder um eine bestimmte Rollenerwartung, nämlich Selbstbeherrschung. Viele der Vorwürfe lassen sich auf die Formel zurückführen: Da hat sich jemand nicht im Griff. Gerade für Politiker ist diese Anschuldigung verheerend.

Eine weitere Form der Herabsetzung ist Fremdenfeindlichkeit. In Rom richtete sie sich gegen ehemalige Kriegsgegner wie Gallier und Iberer, mit Blick auf Karthager spielte die nordafrikanische Herkunft eine Rolle. Wie fremdenfeindlich war die Antike?

Prinzipiell ist die römische Gesellschaft offen für Zuwanderung. Im Gründungsmythos Roms heißt es, Romulus habe die Stadt mit der Errichtung einer Asylstätte verbunden. Diskriminierung aufgrund der Herkunft gab es zwar, sie spielte aber quantitativ eine untergeordnete Rolle.

Wie zeigte sich diese Offenheit gegenüber Zugewanderten?

Vom Dichter Plautus ist ein Theaterstück überliefert: „Poenulus“ – frei übersetzt: das Karthagarchen. Der Titel mit dem Diminutiv scheint auf eine Diskriminierung hinzudeuten, aber das Stück lässt sich auch als Aufruf zu Toleranz lesen. Jedenfalls ist es weniger eindeutig negativ, als wir erwarten würden. Entscheidender ist die Herabsetzung aufgrund der sozialen Herkunft.

„Der Dichter Juvenal könnte durchaus für die Wähler Donald Trumps geschrieben haben.“

Dennis Pausch

Inwiefern?

Sozialen Aufsteigern wurde von den etablierten Familien mit Skepsis begegnet. Schon allein die Vorstellung, mit seiner eigenen Hände Arbeit Geld zu verdienen, galt als anrüchig. Zugespitzt gesagt: Man kann zur Not aus einer anderen Provinz nach Rom kommen, aber man sollte aus den richtigen Verhältnissen stammen.

Die Angst vor dem Abstieg ist ein durchgehendes Motiv. Ein FDP-Politiker warnte mal vor der „spätrömischen Dekadenz“. Aber schon die Römer beklagten den Niedergang ...

Es ist überraschend, wie aktuell manche Texte sind, mit denen sich klassische Philologen befassen. Der Dichter Juvenal könnte durchaus für die Wähler Donald Trumps geschrieben haben. Das Gefühl, sozial abgehängt zu sein, zu den Verlierern eines umfassenderen Handels, ja einer Globalisierung im antiken Maßstab zu gehören – Juvenal berichtet aus dieser Perspektive, das klingt sehr nach Make Rome Great Again. Es gibt insofern keine historische Konstanz, aber die Wiederkehr bestimmter Konstellationen, die ihren Ausdruck auch in bestimmten Formen von Beleidigung findet. Hier, die Herabsetzung von Minderheiten.

Sind das Juvenals eigene Positionen oder satirische Übertreibungen?

In der Forschung ist strittig, ob die Person, die in seinen Satiren spricht, mit dem Autor gleichgesetzt werden kann. Als Klassischer Philologe mag man sich letzteres vielleicht auch ungern eingestehen. Aber eine explizite Distanzierung Juvenals von diesen populistischen Positionen findet in seinen Stücken jedenfalls nicht statt.

Die Gefahr der Hassrede liegt im Umschlagen von verbaler in physische Gewalt. Lassen sich in der Antike Beispiele von Stigmatisierungen finden, die zu Übergriffen geführt haben?

Das gab es in der Antike mit Sicherheit auch. Prominenter ist der umgekehrte Fall. Nämlich, dass die führenden Kreise sich durch Beleidigungen bedroht fühlen. In der Kaiserzeit im 1. Jahrhundert beginnt eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und damit der Schmähkritik: Kritik am Kaiser wird unter Strafe gestellt. Auch aus der Furcht heraus, die verbale Gewalt könnte umschlagen. Dieses Bild hält sich übrigens im Lauf der Zeit. Gesetze zur Majestätsbeleidigung dienten bis in unsere Zeit auch dazu, Attentate zu verhindern. Die Herabsetzung eines Herrschers bereitet eine Delegitimierung und damit einen möglichen Gewaltakt vor.

Hassattacken heute werden vornehmlich über soziale Medien verbreitet. Lässt sich das mit der Breitenwirkung von Graffiti in der Antike vergleichen?

Facebook ist in der absoluten Reichweite natürlich überlegen. Aber es handelt sich um ein ähnliches Phänomen: zum Teil unbekannter Absender, größtmögliche Öffentlichkeit. Entscheidend, das zeigen auch unsere Arbeiten in Dresden, ist die Durchsetzung der Schriftlichkeit im Alltag. Das macht Beleidigungen dauerhafter und sie können ihre Wirkung für ein breites Publikum entfalten. Flugschriften zum Beispiel waren schon in bestimmten Epochen der Antike geläufig. Die nächste Stufe stellt dann die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert dar. Die dritte Welle kommt mit dem Internet. In allen drei Phasen nimmt vermutlich nicht die Zahl der Beleidigungen zu, wohl aber ihre Breitenwirkung. Wir erleben derzeit also vielleicht eher die Folgen einer medialen Revolution als bloße verbale Enthemmung.

Interview: Peter Riesbeck

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