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Interview mit Markus Tiedemann "Tabubruch übt einen gewissen Reiz aus"

Im Kampf gegen den Rechtsextremismus sieht der Philosoph Markus Tiedemann "viele Institutionen am Limit kämpfen". Viele Probleme würden anwachsen und sich zuspitzen. .
21.01.2023, 08:00 Uhr
Lesedauer: 5 Min
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Von Michael Schön

Herr Tiedemann, der Prozent-Anteil der Menschen, die in Demokratien leben, geht weltweit zurück. Auch bei uns haben wir Probleme mit Menschen, die rechten Ideologien oder Verschwörungstheorien anhängen. Unternehmen wir genug, um unsere Jugend davor zu schützen?  Sie besuchen häufig Schulen, um mit Jugendlichen über den Holocaust zu reden.  

Markus Tiedemann: Mit Blick auf die personellen und finanziellen Anstrengungen leistet die Gesellschaft Enormes. Viele Institutionen kämpfen längst am Limit. Mit Blick auf die Effekte ist dies leider nicht der Fall. Viele Probleme wachsen sogar an und spitzen sich zu. Wenn also keine weiteren Ressourcen zur Verfügung stehen, müssen wir überlegen, wie wir effektiver arbeiten können.   

Nach meiner persönlichen Erfahrung wird im Geschichtsunterricht und in Projekten gute Aufklärungsarbeit geleistet. Trotzdem sieht man auch im Umfeld von Schulen und in den Einrichtungen selbst oft verstörende Parolen. Woran liegt das? Schlicht an der Lust zum Tabubruch?

Die Lust an der Provokation ist ein Katalysator,  aber nicht die eigentliche Ursache. Junge Menschen suchen die Konfrontation, und in unserer liberalen Gesellschaft üben die wenigen verbliebenen Tabubrüche einen gewissen Reiz aus. Allerdings bedarf es vorangegangener Fehlentwicklungen, damit das Schmieren rechtsextremer Parolen Stolz statt Scham auslöst. Ursächlich sind leider zwei traurige Wahrheiten. 1. Auch die beste Aufklärungsarbeit ist keine Erfolgsgarantie. Sie kann stets das Rennen gegen destruktive soziale und mediale Einflüsse verlieren. 2. Doxa, bloße Meinungen, Vorurteile und verblendete Ideologien sind leicht, viral und schnell. Episteme, Wissenserwerb und das Ringen um Objektivität sind anstrengend, schwer und langsam.

Klar, die Tagesschau kann ihren Bildungsauftrag nicht wahrnehmen, wenn keiner hinschaut. Welche Rolle spielen also die sozialen Medien?

Das Problem besteht darin, dass die Gesellschaft ihre kollektiven Foren verliert. Spinner und Radikale hat es zu allen Zeiten gegeben. Wollte man aber eine gewisse Multiplikation erreichen, so musste man auf den Marktplatz. Dort bestand dann stets die Gefahr, durch die Fragen eines Sokrates entlarvt zu werden. Später übernahmen Parlament, Feuilleton und die öffentlich-rechtlichen Medien diese Aufgabe. Eine Sicherheitsgarantie gab es zu keiner Zeit. Das antisemitische Hetz-Blatt „Der Stürmer“ erschien erstmals 1923 und erreichte zehn Jahre später eine Auflage von fast 700.000 Exemplaren. Heute allerdings vermögen einige Influenzer eine solche Leserschaft innerhalb weniger Stunden zu beeinflussen. Zudem wird es immer leichter, sich dem rationalen Rechtfertigungsdruck vollständig zu entziehen, ohne an Einflussmöglichkeiten zu verlieren. Man gründet einfach seinen eigenen Marktplatz. Dort existiert dann kein Wettstreit der Argumente mehr. Genaugenommen geht es gar nicht mehr um Argumente. Es geht nur noch darum, Menschen mit einer geteilten Gefühlslage zu versammeln, die sich fortan wechselseitig in derselben bestätigen. Auch die Belohnungsstrategien der Internet-Logarithmen haben diesen Effekt. Wir benötigen dringend eine Einstellung von Suchmaschinen, die bei jeder Anfrage automatisch kontroverse Positionen gegenüberstellt.   

Wann ist ein Schüler besonders empfänglich für Ideen, die im Nationalsozialismus verwurzelt sind?

Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich zunächst nicht von allen anderen gefährdeten Personen. Wir wissen, dass Personen mit intellektuellen, psychischen und/oder sozialen Defiziten anfälliger sind. Jugend, als Phase des Umbruches, mag diese Einfallstore noch verstärken. Statistisch sind junge Erwachsene in der rechtsextremen Szene aber aktiver als Jugendliche unter 18 Jahren.  

Kommt man auf dem Land leichter als in der Stadt mit den braunen Milieus in Kontakt?

Jeder ist überall und zu jeder Zeit nur wenige Klicks von rechtsextremer Propaganda entfernt. Statistisch sind rechtsextreme Überzeugungen im ländlichen Milieu aber stärker vertreten als im urbanen Raum. Dies bestätigen Wahlergebnisse ebenso wie das Monitoring von Jugendlichen.

Sie haben ein Buch geschrieben über Mythen, die über Hitler und sein Regime in Umlauf sind. Die über den Autobahnbau ist wohl die am stärksten beanspruchte. Was noch?

Es existieren mindestens drei Ebenen rechtsextremer Geschichtsverfälschung. Die erste Ebene ist die des Alltagsrevisionismus, der kontextfrei auf angebliche Verdienste des Nationalsozialismus verweist: „Die Nazis haben Arbeitsplätze geschaffen“, „Bei Hitler konnte Oma noch sicher über die Straße gehen“ und so weiter. Die Ebene der Spezialdebatten versucht, durch die Idealisierung oder Dämonisierung von Einzelaspekten Brücken ins bürgerliche Lager zu bauen: „Die Wehrmacht war anständig und hat heldenhaft gekämpft!“, „Ohne die SS wäre der Nationalsozialismus positiv gewesen“ - derartiger Blödsinn eben. Die dritte Ebene ist die des professionellen Revisionismus, in der versucht wird, augenscheinliche Menschheitsverbrechen zu relativieren und Verschwörungstheorien zu streuen. Im Zentrum steht die angeblich technische oder organisatorische Unmöglichkeit der Shoa.

Wie sind solche Lügen am besten zu widerlegen?

Mit wissenschaftlicher Redlichkeit und pädagogischer Gelassenheit.

Gab es einen besonderen Impuls, der Sie dazu gebracht hat, sich von Berufs wegen mit rechter Propaganda auseinanderzusetzen? Erlebnisse in der Kindheit oder der Jugend? 

Initialzündung waren gewiss die Anschläge von Mölln und Solingen. Seither sind über 30 Jahre vergangen, in denen ich Workshops mache, Vorträge halte und veröffentliche. Es ist ein wenig wie mit dem Impfen. Wir müssen die Immunisierung hochhalten, um die Seuche beherrschbar zu machen. Eine gelegentlich zermürbende Sisyphusarbeit. Aber der Stein muss eben für jede Generation erneut den Berg hinaufgerollt werden.

Das Interview führte Michael Schön. 

Zur Person

Markus Tiedemann (52)

ist ein deutscher Philosoph, Fachdidaktiker und Jugendbuchautor, der in Hamburg lebt und an der Technischen Universität Dresden forscht und lehrt. Zu seinen Arbeits- und Interessensschwerpunkten zählen Philosophiedidaktik, ethische Orientierung in der Moderne, Migrationsfragen, Philosophieren mit Kindern, empirische Bildungsforschung und Rechtsextremismus. Zusammen mit Volker Steenblock und Bettina Bussmann ist Tiedemann Vorsitzender des „Forums für Didaktik der Philosophie und Ethik“ innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik“. Schriften von Markus Tiedemann sind bisher in neun Sprachen übersetzt worden.

Zur Sache

IGS-Projekte zur Erinnerung an Holocaust-Opfer 

Markus Tiedemann wird  am Donnerstag, 26. Januar, in der Mehrzweckhalle der IGS Osterholz-Scharmbeck zu Gast sein, um dort einen interaktiven Vortrag zu halten, der dem Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gewidmet ist. Er steht unter dem Thema "Holocaust-Leugnung und identitäre Radikalisierung".  Im Anschluss soll darüber diskutiert werden, ob zwischen rechter und linker Identitätsideologie eine gefährliche und kontraproduktive Nähe entstanden ist. Der Vortrag ist Teil einer Reihe von Veranstaltungen, die von der IGS im Rahmen des internationalen Gedenktages am 27. Januar und des Projektes "Wider das Vergessen - Erinnern für Toleranz" organisiert wird. Bei dem um 9.50 Uhr beginnenden Vortrag von Markus Tiedemann handelt es sich um eine grundsätzlich schulinterne Veranstaltung. Am 7. Februar wird der Holocaust-Überlebende Gabor Lengyel in der IGS erwartet. Der Rabbiner wurde 1941 in Ungarn geboren. Während seine Mutter auf dem Weg ins Konzentrationslager Dachau starb, konnte sich Gabor Lengyel, unter der Obhut eines älteren Bruders und einer Tante in einem Versteck des Budapester Ghettos, dem Zugriff der mörderischen NS-Schergen entziehen.  

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