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„Paukenschlag“ des EuGH: Das neue Urteil erweitert die Haftung von Herstellern beträchtlich

Das oberste Gericht der Europäischen Union, der Europäische Gerichtshof (kurz „EuGH“), hat mit seinem aktuellen Urteil vom 21. März 2023 (Az. C‑100/21) entschieden, dass Käufer einen Anspruch auf Schadensersatz auch dann haben können, wenn Hersteller bei der Verwendung einer im Fahrzeug verbauten unzulässigen Abschalteinrichtung nur fahrlässig gehandelt haben, sie folglich nur leichtes Verschulden trifft. Mit dem Urteil widerspricht der EuGH auf ganzer Breite der bisherigen nationalen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (kurz „BGH“) entschieden (Grundsatzentscheidung aus Mai 2020). Das Urteil hat weitreichende Konsequenzen und könnte – auch abseits des „Diesel-Komplexes“ – eine ganz neue Welt möglicher Schadensersatzklagen eröffnen.

Sachverhalt

Der Kläger ist Käufer eines gebrauchten Mercedes-Benz-PKW, dessen Motor ein sog. „Thermofenster“ enthält. Dieses Thermofenster wird bei der Abgasreinigung verwendet. Es sorgt dafür, dass die Abgasrückführung (nur, aber nicht ständig) bei bestimmten Temperaturen reduziert wird. Der Käufer machte Schadensersatzansprüche wegen der Verwendung einer angeblichen sog. unzulässigen Abschalteinrichtung – die grundlegende Problematik ist vielen aus der Diesel-Thematik bereits bekannt – geltend. Aufgrund der Tatsache, dass ein Thermofenster grundsätzlich (auch) den Motor des Kfz schützen soll (so die Argumente der Hersteller), hatte der BGH in bisheriger Linie Schadensersatzansprüche unter dem Gesichtspunkt abgelehnt, dass Herstellern insoweit die nach dem Gesetz erforderliche „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“ nicht nachgewiesen werden konnte. Und dem folgten nahezu alle Oberlandesgerichte in Deutschland.

Die Entscheidung des EuGH

Zwar beantwortete der EuGH die Frage, ob es sich bei dem Thermofenster um eine „illegale“ Abschalteinrichtung handelt, nicht, er senkte jedoch – sehr verbraucherfreundlich – die „Hürden für die Geltendmachung erfolgreicher Klagen“ gegen Hersteller.

Der EuGH entschied nunmehr, dass gar nicht auf die sog. „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“ abgestellt werden müsse, Käufer von Diesel-Fahrzeugen mit sog. Thermofenster-Abschalteinrichtungen ihre Schadensersatzansprüche vielmehr auch auf die „Verletzung eines Schutzgesetzes“ (national: auf § 823 Abs. 2 BGB) stützen können. Aus Sicht der EuGH-Richter schützt das Unionsrecht, in dem Fall die Regelungen zur Typengenehmigung, auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller. Es handelt sich somit um sogenannte „Schutzgesetze“. Demnach können dann Verstöße gegen das Verbot von unzulässigen Abschalteinrichtungen auch schon bei einfacher Fahrlässigkeit der Hersteller zu Schadensersatz führen.

Hinweise für die Praxis

Der BGH hatte den drittschützenden Charakter der EU-Vorschriften zur Typengenehmigung bislang stets verneint und Klagen, gestützt auf § 823 Abs. 2 BGB, bis dato konsequent abgelehnt. Die EuGH -Entscheidung könnte zu einem grundlegenden Wandel in der juristischen Auslegung führen, die weitreichende Konsequenzen für viele Tausend noch anhängige Schadensersatzprozesse hat. Der BGH hatte mit Blick auf das EuGH-Verfahren einen Dieselfall auf den 8. Mai 2023 verlegt und auch in den unteren Instanzen wurden etliche Verfahren zurückgestellt, um das EuGH-Urteil zunächst abzuwarten. Hersteller müssen nunmehr befürchten, in bereits anhängigen Schadensersatzprozessen zu unterliegen. Hinzukommt, dass fast alle Dieselhersteller derartige temperaturbezogene Abschalteinrichtungen nutzen und mithin sogar eine neue Welle an Klagen erwartbar sein dürfte, wenngleich Verjährungsfragen vorab im Einzelfall sorgfältig geprüft sein wollen, insbesondere wenn Ansprüche erst 2023 geltend gemacht werden.

Es ist hervorzuheben, dass diese Erweiterung der deliktischen Haftung von Herstellern durch den EuGH längst nicht nur Kfz-Hersteller trifft. Neben den unmittelbaren Folgen für die Diesel-Fälle hat dieses „Paukenschlag-Urteil“ mithin auch das Potenzial, das deutsche materielle Deliktsrecht grundlegend zu verändern.

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