Wir leben in einer Zeit der Krisen –brauchen wir neue Helden?

Wir leben in einer Zeit der Krisen –brauchen wir neue Helden?

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Aus den USA kommt ein unglaubliches Versprechen: Für 1000 Dollar können gewöhnliche Menschen lernen, Helden zu werden. Hinter der Idee steht ein berühmter Professor, der sein Leben lang die Natur des Bösen erforscht hat. Jetzt will er die Welt retten.

Flurin Clalüna (Text), Simon Tanner (Illustrationen) 17 min
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Mitte April sitzt Wolodimir Selenski auf einem grünen Ledersessel und hält seine 639. Rede seit Kriegsbeginn. Er sagt: «Es ist wichtig, dass wir alle zu Helden werden, damit wir gewinnen. Ehre all unseren Kriegern. Ehre unserem starken Volk. Ruhm der Ukraine.»

Es ist noch nicht lange her, da hätte man sich im Westen über so viel Pathos gewundert. Man hätte wahrscheinlich auch Selenskis berühmten Satz, er brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit, machohaft gefunden. Aber der ukrainische Präsident ist für den Spruch gefeiert worden. Das «Time Magazine» wählte ihn im Dezember zur Person des Jahres. Selenski hat sich die Rolle nicht ausgesucht, aber es scheint, als habe er im vergangenen Jahr die Figur des Helden wiederbelebt.

Zehn Zeitzonen von der Ukraine entfernt denkt ein Mann über Selenski nach und darüber, was es bedeutet, heute ein Held zu sein. Matt Langdon sitzt in seinem kleinen Büro in San Francisco und fragt sich: Wäre ich wie Selenski in Kiew geblieben? Oder hätte ich mich in Sicherheit gebracht? Langdon, ein 50-jähriger Australier, ist eine Art Heldenforscher. Er sagt: «Wir brauchen Helden.» Ohne mutige Leute, die sich engagierten, funktioniere eine Gesellschaft nicht. Krisenzeiten sind Heldenzeiten. Und Krisen gibt es gerade mehr als genug.

Matt Langdon war in der Jugendarbeit tätig und hat in Amerika Camps für Kinder geleitet. Heute ist er der Präsident des Heroic Imagination Project, einer gemeinnützigen Organisation aus Kalifornien, die etwas Grosses verspricht: Sie kann aus gewöhnlichen Menschen Helden machen. So wie man seine Bauchmuskeln trainiert, kann man auch üben, ein Held zu sein. Für 1000 Dollar pro Tag lernt man bei Langdon in einem Crashkurs, einer zu werden. Das hört sich seltsam an, vielleicht sogar unseriös. Langdon ist selber kein Wissenschafter. Aber viele seiner Kollegen schon.

Zusammen mit zwölf ehrenamtlichen Mitarbeitern, unter ihnen Rechts-, Politologie- und Psychologieprofessoren, reist Langdon durch die ganze Welt, um ihre Idee zu verbreiten. Sie unterrichten an Schulen, Universitäten und Firmen, beim Automobilhersteller Ford oder bei der Deutschen Bank. Das Heroic Imagination Project ist in 22 Ländern vertreten, in Australien, Argentinien, Iran oder Italien, allein in Ungarn haben 65 000 Personen das «Heldentraining» durchlaufen.

Ist Heldentum wirklich lernbar? Passt eine einzelgängerische Figur, die im Krisenfall einsame Entscheidungen trifft, überhaupt noch in unsere Zeit, in der alle von Teamarbeit schwärmen? Tut ein Held immer Gutes? Und wer bestimmt, was das Gute ist?

Wer in einem Land als Held gilt, ist in einem anderen ein Terrorist; was heute als gerecht angesehen wird, ist morgen vielleicht ungerecht. Heldentum ist etwas Kompliziertes. Man könnte auch sagen: Wenn wir in eine Situation geraten, in der wir einen Helden brauchen, muss etwas schiefgegangen sein und haben wir als Gesellschaft etwas falsch gemacht.

Solche Gedanken macht sich Matt Langdon kaum. Für ihn verkörpert ein Held das moralische Gewissen, das irgendwo in uns allen steckt. Man muss es nur herauskitzeln.

Was Langdon den Teilnehmern in seinen Workshops beibringt, ist eine Anleitung für Helden in sieben Punkten. Es ist eine Mischung aus einem Ethikkurs, etwas Sozialpsychologie und einer Selbstoptimierungslektion.

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1. Ein Held ist nicht das, was Sie denken

Seit sich Menschen Geschichten erzählen, gibt es Helden. Schon die Malereien an den Höhlenwänden vor 30 000 Jahren zeigten Draufgänger, die Bisons erlegten, später kam Herkules und irgendwann Superman. Meistens waren die Helden Männer. Das lateinische Wort vir bedeutet Mann und Held zugleich.

Kürzlich fragten Wissenschafter der Universität des Baskenlandes 7000 Studenten aus aller Welt, wer der grösste Held der Menschheitsgeschichte sei. Sie nannten: Einstein, Mutter Teresa und Gandhi. Jesus wurde Sechster. Zur gleichen Zeit fand in England eine Umfrage unter Kindern statt. Sie wählten Spider-Man, Lionel Messi und Harry Potter zu ihren Lieblingshelden. «Wir sind offenbar süchtig nach übermenschlichen Figuren», sagt Langdon.

Wir sehnen uns nach Vorbildern, die Dinge können, die gewöhnliche Leute nicht können, weil sie mutiger, talentierter, stärker, klüger oder charismatischer sind als die meisten von uns.

Das Gefährliche an solchen Überfiguren ist, dass sie uns in Versuchung führen, ihnen die ganze Arbeit zu überlassen; dass wir sie die Welt retten lassen, während wir uns auf dem Sofa zurücklehnen. Das sei eine falsche Vorstellung von Heldentum, sagt Langdon. Genauso falsch sei es, einen berühmten Fussballer, eine erfolgreiche Sängerin oder einen freundlichen Nachbarn, der in einem Obdachlosenheim Suppe ausschenke, als Helden zu bezeichnen. «Das mögen alles gute Leute sein und vielleicht Vorbilder. Aber sie sind keine Helden.»

Heldentum hat für Langdon vier Merkmale: Jemand muss etwas freiwillig tun; die Tat muss mit einer Gefahr, einem Risiko oder einem sozialen Opfer verbunden sein; sie muss im Dienst anderer stehen; sie muss vollbracht werden, ohne dass man eine Belohnung erwartet. Einfach zusammengefasst: Heldentum ist Altruismus plus Risiko.

Langdon sagt seinen Schülern: Niemand kommt als Held auf die Welt. Nicht der Mensch ist aussergewöhnlich, sondern die Tat. Ein Held muss keinen makellosen Charakter haben. Gandhi wurde wegen rassistischer Äusserungen kritisiert, Mutter Teresa wegen ihres Umgangs mit Spendengeldern, Martin Luther King wegen ehelicher Untreue. Im Zweiten Weltkrieg gab es Diebe und Erpresser, die Juden vor den Nazis retteten. 2005, während der Hurrikan «Katrina» tobte, evakuierte ein mehrfach vorbestrafter junger Mann 70 Menschen und fuhr sie in einem ausrangierten Schulbus von New Orleans nach Houston. Ein halbes Jahr später kam er wegen Drogendelikten erneut ins Gefängnis.

Bis heute haben die Wissenschafter kein Helden-Gen gefunden. Die japanische Studie «Born to love superheroes» aus dem Jahr 2017 zeigte zwar, dass sich schon sechs Monate alte Babys zu Menschen hingezogen fühlen, die Schwache beschützen. Aber die Forscher wissen nicht genau, warum einige von uns heldenhafte Dinge tun und andere nicht.

Kann man überhaupt erkennen, was jemanden zum Helden macht? Langdon sagt seinen Schülern, um das herauszufinden, müssten sie das Böse verstehen. Und die Erkenntnisse dann in ihr Gegenteil verkehren.

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2. Verstehen Sie das Böse

Wissenschaftliche Heldenstudien gibt es erst seit den 1980er Jahren, einen ersten Boom erlebten sie um die Jahrtausendwende. Lange hatten sich die Forscher kaum für das Thema interessiert. Sie waren viel stärker davon fasziniert, warum jemand Böses tut.

Wozu blinder Gehorsam im Extremfall führen kann, zeigte ein berühmtes Experiment aus den 1960er Jahren. Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram rekrutierte Versuchspersonen, die «Lehrer» spielen sollten. Sie mussten «Schüler» kontrollieren, die Wortpaare auswendig lernten. Wenn sie falsche Antworten gaben, wurden die Lehrer aufgefordert, ihnen Stromschläge zu verabreichen. Nach jedem Fehler sollte die Intensität gesteigert werden. Dass die Elektroschocks nicht echt und die Schüler Schauspieler waren, wussten die Probanden nicht. Auch wenn die Opfer schrien und darum baten, mit der Bestrafung aufzuhören, stellten die Lehrer den Stromregler immer noch höher. Zwei Drittel von ihnen waren bereit, die Schüler mit Elektroschlägen von 450 Volt zu quälen. In dieser Stärke sind Stromstösse potenziell tödlich.

Milgram schloss daraus: Die Mehrheit foltert, wenn man es ihr befiehlt. Zehn Jahre später gewann Philip Zimbardo, ein Schulfreund Milgrams, weitere Erkenntnisse über die Natur des Bösen.

Der Psychologieprofessor Zimbardo führte 1971 das berüchtigte Stanford-Prison-Experiment durch. Er stellte im Keller der Universität ein Gefängnis nach und teilte 24 Studenten zufällig in Wärter und Gefangene ein. Nach wenigen Tagen musste Zimbardo das Experiment abbrechen, weil sich die Aufseher mit ihrer Rolle überidentifizierten und die Gefangenen schikanierten. Sie hatten ihnen Papiersäcke über den Kopf gestülpt, sie von Hand die Toiletten putzen lassen und ihnen befohlen, Mitgefangene zu verhöhnen und sexuelle Handlungen zu simulieren. 2004 studierte Zimbardo die Greueltaten im irakischen Foltergefängnis Abu Ghraib und kam zum gleichen Urteil wie dreissig Jahre zuvor: Die Wurzeln des Bösen lagen in Entmenschlichung, der Abschiebung von Verantwortung und Kadavergehorsam.

Zimbardo arbeitete fünfzig Jahre lang als Psychologieprofessor an der Stanford University in Kalifornien. Praktisch sein ganzes Leben hatte er sich mit der Natur des Bösen beschäftigt, er galt als «Doctor Evil» unter den Psychologen. Aber so wollte Zimbardo nicht in Erinnerung bleiben. 2006 fragte er sich: Wenn es die «Banalität des Bösen» gibt, wie die Philosophin Hannah Arendt gesagt hatte, gibt es dann auch die «Banalität des Heroischen»? In einem Interview mit einer australischen Zeitung sagte Zimbardo: «Seit dem Milgram- und dem Stanford-Prison-Experiment wissen wir, wie einfach es ist, gute Menschen dazu zu bringen, böse Taten zu begehen. Aber können gewöhnliche Menschen auch inspiriert und trainiert werden, heroische Taten zu vollbringen?» Er fand, das sei möglich.

2010 gründete Zimbardo das Heroic Imagination Project.

Es ist Zimbardos letztes grosses Experiment, seine letzte grosse Wette, dass Menschen zum Guten erzogen werden können. Im vergangenen März ist er 90 Jahre alt geworden. Alles, was Matt Langdon seinen Kursteilnehmern beibringt, beruht auf Zimbardos Erkenntnissen.

ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Sonderegger, Christof / Com_L27-0073-0001-0002 / CC BY-SA 4.0

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Simon Tanner / NZZ

3. Stellen Sie sich vor, ein Held zu sein

Zimbardos wichtigste Botschaft lautet: Die Menschen müssen sich vorstellen, Helden zu sein. Die Schüler in Langdons Workshops geben deshalb öffentlich und vor allen anderen ein «Heldenversprechen» ab. Sie sollen sich als «Helden in Wartestellung» verstehen. Um vorbereitet zu sein, wenn es darauf ankommt.

Wenn das Gehirn gedanklich etwas durchspielt, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass es auch in der Wirklichkeit funktioniert. Man kennt es aus der Sportpsychologie: Ein Golfspieler, der sich im Training vorstellt, wie er den Ball richtig schlägt, erhöht die Chancen, dass er ihn an einem Turnier tatsächlich trifft. Das gilt offenbar auch beim Heldentraining. Eine Studie der Universität Ohio belegt, dass Leser, die sich in Heldengeschichten vertiefen und sich ausmalen, selber mutig zu handeln, es im richtigen Leben eher tun als solche, die nie darüber nachgedacht haben.

Langdon kennt ein Beispiel dafür. Einer seiner Kollegen des Heroic Imagination Project interviewte Anthony Sadler, einen Amerikaner, der 2015 mit zwei Freunden in einem Zug sass, der von Amsterdam nach Paris fuhr. Als ein bewaffneter Attentäter im Zugabteil auf die Passagiere schoss, schafften die drei Männer es, ihn zu überwältigen. Im Interview erzählte Sadler, er habe sich jahrelang mit den «Power Rangers» identifiziert. Die «Power Rangers» sind Fernsehhelden, die die Welt vor dem Bösen retten. An sie habe er gedacht, als er im Zug vor dem Mann mit dem Gewehr gestanden sei, sagte Sadler.

Ob das wirklich stimmt, ist schwierig zu belegen. Das ist eines der Probleme des Heldentrainings. Ob es tatsächlich funktioniert, ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Es gebe noch keine harten Beweise, sagt auch Langdon. Aus ethischen Gründen kann man Menschen nach der Ausbildung nicht einer Gefahr aussetzen, um zu schauen, wie sie reagieren. Schüler aus Michigan haben nach einem Heldentraining in Interviews zwar gesagt, sie fühlten sich nun mutiger. Aber in einer zweiten Befragung einen Monat später war der Effekt schon nicht mehr nachweisbar.

Das meiste Wissen des Heroic Imagination Project beruht auf Hörensagen. Langdon hat viele Geschichten gesammelt, die Hinweise geben, warum jemand zum Helden wird.

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4. Lernen Sie, wie Helden funktionieren

Der Bauarbeiter Wesley Autrey sprang von einem U-Bahn-Perron auf die Geleise, um jemanden vor einem heranfahrenden Zug zu retten; der Bordmusiker Moss Hills organisierte die Evakuierung der Passagiere auf einem sinkenden Kreuzfahrtschiff, weil der Kapitän nichts unternahm; der Architekt Frank De Martini half nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 70 Menschen, aus dem einstürzenden World Trade Center zu flüchten, und verlor sein Leben.

Was haben diese Menschen gemeinsam? Der Bauarbeiter Autrey war ein Marineveteran und hatte eine «Charta der Grundwerte» unterschrieben. Sie sieht vor, dass man «das Richtige» tun müsse, auch wenn man mit persönlichen Konsequenzen konfrontiert sei. Der Musiker Hills und der Architekt De Martini hatten Freiwilligenarbeit geleistet, Hills im Musikverein, De Martini im Sportklub. Es sind nur kleine biografische Details. Aber sie könnten eine Rolle für ihr späteres Verhalten spielen.

Die meisten Erkenntnisse verdankt die Heldenforschung Untersuchungen über die Zeit des Nationalsozialismus. Wissenschafter gingen der Frage nach, warum sich Menschen selber in Gefahr brachten, um Juden vor den Nazis zu retten. Der Soziologe Samuel Oliner und seine Frau interviewten dazu in den 1980er Jahren 1500 Personen. Etwas hatten alle gemeinsam, Oliner sagte es einmal so: «Sie konnten schlicht nicht dastehen und anderen beim Leiden zusehen.» Auffallend war, dass ihnen schon früh in der Kindheit Werte wie Mitgefühl, Fairness, Verantwortungsbewusstsein und unabhängiges Denken vermittelt worden waren. Mit anderen Worten: Sie hatten von ihren Eltern oder Vorbildern etwas gelernt, was sie später zu Helden machte.

Etwas Ähnliches gilt für den japanischen Konsul in Litauen Chiune Sugihara, dessen Leben der Psychologieprofessor Philip Zimbardo studiert hat. Sugihara wurde als «japanischer Oskar Schindler» bezeichnet. Er hatte 1940 mehrere tausend Visa für Juden unterschrieben und ihnen so bei der Flucht vor den Nazis geholfen – obwohl es ihm seine Regierung verboten hatte.

Zimbardo schreibt: «Bei Sugihara erkennen wir, was jemanden zum Helden macht: Dass er Juden gerettet hat, steht am Ende einer langen Liste kleinerer Taten. Er widersetzte sich wiederholt sozialen Normen.» Sugihara hatte sich geweigert, Arzt zu werden, wie es sein Vater gewünscht hatte; seine erste Frau war nicht Japanerin, was in der damaligen Zeit zu sozialen Problemen führen konnte; ausserdem trat Sugihara in den 1930er Jahren von seinem diplomatischen Posten in der Mandschurei zurück, um gegen die Behandlung der Chinesen durch das japanische Militär zu protestieren. Kurz: Sugihara hatte seinen eigenen moralischen Kompass.

Den Forschern fiel noch etwas anderes auf, als sie die Biografien von Rettern während des Zweiten Weltkriegs studierten: Mehrere von ihnen hatten selber Traumata, Schicksalsschläge oder Todesfälle nahestehender Personen erlebt. Die Psychologin Eva Fogelman schloss daraus, diese Erfahrungen könnten Menschen empfänglicher für das Leid anderer machen und sie zum Eingreifen bewegen.

Es gibt immer wieder Geschichten von Menschen, die anderen beistehen und sich wehren, wenn etwas Ungerechtes geschieht, auch wenn sie dabei selber ein Risiko eingehen. Aber warum sind es nicht viel mehr? Warum schauen die meisten oft nur zu, obwohl sie wissen, dass sie eigentlich handeln müssten?

Matt Langdon fragt die Studenten während seiner Vorträge: «Wenn ich jetzt von der Bühne falle: Wer von euch hilft mir dann wieder auf?» Die meisten strecken dann die Hand auf. «Aber ich weiss genau: Wenn es passiert, hilft mir höchstwahrscheinlich keiner.»

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5. Seien Sie kein Zuschauer

Oft verhalten wir uns einfach so, wie es uns andere vormachen. In den Kursen führt Langdon seinen Teilnehmern einen Film aus den 1960er Jahren vor. Er zeigt Schauspieler, die in einem Lift stehen. Normalerweise schauen wir in einem Aufzug zur Lifttür. In diesem Experiment aber blicken alle in die entgegengesetzte Richtung zur hinteren Liftwand. Wenn nun der Versuchsteilnehmer den vollen Fahrstuhl betritt, ist er zunächst irritiert. Aber nach wenigen Augenblicken dreht auch er sich zur Wandseite wie alle anderen. Das ist nur ein harmloses Beispiel für den Herdentrieb. Es gibt andere Tests, die beunruhigender sind.

Ein Versuch des Psychologen Solomon Asch zeigt, wie Gruppenzwang funktioniert. An einem Tisch sitzen sieben Schauspieler und ein Proband. Ihnen werden zwei Karten gezeigt. Auf der einen Karte sind drei unterschiedlich lange Striche, auf der anderen Karte befindet sich nur ein Strich. Dieser eine Strich ist genau so lang wie einer der drei auf der anderen Karte. Es ist von Auge ganz einfach zu erkennen. Wenn nun aber alle Schauspieler fälschlicherweise behaupten, zwei andere Striche seien gleich lang, ändert die Mehrheit die Meinung. Von 50 Versuchsteilnehmern gab nur ein Viertel die richtige Antwort.

In Nachbefragungen behaupteten die meisten, die falsch geantwortet hatten, sie hätten sich nicht beeinflussen lassen. Vielmehr hätten sie gedacht, etwas stimme mit ihren Augen oder ihrem Kopf nicht. Langdon sagt: «Wenn eine grosse Gruppe etwas macht, hat unser Gehirn den Eindruck, das sei okay. Menschen sind gut darin, Schafe zu sein.»

Wenn viele etwas tun, tun wir es auch. Noch unheimlicher ist das Gegenteil: Wenn viele nichts tun, tun wir auch nichts.

Das ist der sogenannte «Bystander-Effekt», der Zuschauereffekt. Er bedeutet vereinfacht: Je mehr Menschen einen Notfall beobachten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass jemand hilft. Eine grosse Menschenmenge versetzt den Einzelnen in Apathie. Unternimmt der erste Zuschauer nichts, schafft er eine soziale Norm, die auf alle anderen eine Sogwirkung ausübt. Das berühmteste Beispiel stammt aus dem Jahr 1964. Mitten in einem New Yorker Wohnviertel wurde Kitty Genovese überfallen, vergewaltigt und ermordet. Zahlreiche Zeugen bekamen die Tat mit, aber niemand half der jungen Frau. Im Nachhinein stellte sich zwar heraus, dass einige Beobachter doch die Polizei gerufen hatten, aber Genoveses Fall bleibt weiterhin ein Lehrstück für den Zuschauereffekt.

Das Heroic Imagination Project hat mit Studenten ein ähnliches Experiment durchgeführt: Einer der Schüler legte sich in Ungarn auf die Strasse und simulierte einen Schwächeanfall. 40 Menschen im Umkreis von wenigen Metern gingen minutenlang an ihm vorbei, ohne etwas zu unternehmen. Niemand wollte sich exponieren, alle nahmen wohl an, jemand anderer würde einschreiten.

Der «Bystander-Effekt» verhindere Helden, sagt Langdon. «Das Gegenteil des Helden ist nicht der Bösewicht. Es ist der Zuschauer.»

Langdon sagt seinen Studenten: «Seid keine Bystander, seid Upstander.» Aber wie geht das?

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6. Üben Sie

Philip Zimbardo schreibt in einem Aufsatz, das Wichtigste sei Wissen: «Je mehr du weisst, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass du ein Held wirst.» Matt Langdon sagt, es gebe Untersuchungen, die zeigten, dass sich Menschen allein deshalb anders verhalten würden, weil sie den Bystander-Effekt kennten. Und weil sie lernen, warum wir lieber Leuten helfen, die uns nahestehen, die mit uns verwandt sind oder mit denen wir uns identifizieren.

Ein eindrückliches Experiment kommt aus der Sportwelt: Kurz bevor ein Fussballspiel stattfand, lag ein Verletzter auf der Strasse, der das Trikot einer bestimmten Mannschaft trug. Leute, die mit der gleichen Mannschaft sympathisierten, halfen ihm. Fans des gegnerischen Teams gingen achtlos an ihm vorbei.

Sobald wir solche Mechanismen verstünden, stiegen die Chancen, die Muster zu durchbrechen, sagt Langdon.

Am Ende ist es harte Arbeit, ein Held zu werden, man muss es üben, wie Piloten in einem Flugsimulator trainieren. Das geht zum Beispiel so: Kursteilnehmer malen sich einen farbigen Punkt auf die Stirn. Einen Tag lang gehen sie so zur Schule oder zur Arbeit. Sie dürfen die Markierung nicht entfernen oder erklären, was sie bedeutet. «So lernen sie, sich zu exponieren und Blicke auszuhalten», sagt Langdon. Eine andere Übung besteht darin, in einem Shoppingcenter vor allen Leuten ein Lied zu singen. Es geht darum, im Alltag zu trainieren, aus der Masse herauszustechen, um es auch im Ernstfall zu tun.

Üben kann man es wie beim Muskeltraining an einer Kraftmaschine im Fitnesscenter. Man fängt ganz langsam an und steigert die Intensität immer mehr. Langdons Studenten beginnen zum Beispiel damit, jemandem ein Kompliment zu machen, das dauert nur ein paar Sekunden; dann helfen sie alten Leuten eine Stunde lang im Garten, danach arbeiten sie einen halben Tag in einem Behindertenheim mit, und später hüten sie einen ganzen Tag die Kinder der Nachbarin. «Und am Ende steht nach vielen guten kleinen Taten vielleicht eine Heldentat.»

Aber ist es überhaupt klug, Menschen dazu zu bringen, sich diese Instinkte anzutrainieren?

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7. Riskieren Sie etwas (aber nicht zu viel)

Kanadische Forscher der University of Waterloo haben 2017 in einer Computersimulation einen U-Bahn-Tunnel mit Wasser geflutet und herausgefunden, dass es zu mehr Opfern führen kann, wenn Helden zuerst andere retten, bevor sie sich selber in Sicherheit bringen. Der Leiter der Untersuchung sagte: «Tollkühnheit ist keine gute Strategie. In sehr kritischen Situationen müssen wir etwas egoistisch sein.» Heldentum kann schädlich sein, manchmal sogar tödlich.

Im Zweiten Weltkrieg haben 464 amerikanische Soldaten eine Ehrenmedaille für heldenhaftes Verhalten bekommen, die Medal of Honor ist die höchste militärische Auszeichnung der USA. Das Traurige ist: Die Hälfte von ihnen ist bei der Tat gestorben.

Auch das Heroic Imagination Project muss sich unangenehme Fragen stellen. Der amerikanische Soziologieprofessor James Beggan kritisierte, die Trainingsprogramme seien von zweifelhaftem Wert. Sie glorifizierten Helden und verführten junge Menschen dazu, sich in Gefahr zu bringen.

Jugendliche können Bedrohungen nicht richtig einschätzen, weil ihre kognitiven Fähigkeiten noch nicht genug entwickelt sind. Zudem besteht das Risiko, dass sich Teilnehmer nach einem Heldentraining bewusst gefährliche Situationen suchen oder diese sogar selber schaffen. Es gibt Studien, die belegen, dass Kinder, die ein Superheldenkostüm anziehen, sich zu unbedachten Aktionen verleiten lassen.

Matt Langdon hat einen Bericht über ethische Bedenken des Heldentrainings bei Minderjährigen geschrieben und kommt zum Schluss: «Wir halten das Training für nützlich für die Gesellschaft. Aber wir wollen nicht, dass junge Menschen ihr Leben riskieren oder sogar verlieren, weil sie sich in Situationen begeben, die ihre Fähigkeiten übersteigen. Darauf weisen wir sie immer hin.»

Doch es ist ein schmaler Grat, Leute zum Heldentum zu animieren und sie gleichzeitig davor zu warnen, dass aus Mut nicht Übermut werden darf. Es stellen sich auch rechtliche Fragen: Kann eine Organisation wie das Heroic Imagination Project haftbar gemacht werden, wenn ein Held nach dem Training bei einer Aktion umkommt oder schwer verletzt wird? Bis heute ist zwar kein solcher Fall bekannt. Aber je mehr Menschen die Organisation trainiert, desto grösser wird das Risiko, dass irgendwann etwas schiefgeht.

Noch komplizierter wird es, wenn jemand etwas tut, was er für heldenhaft hält – und die Tat im Nachhinein ungewollte Konsequenzen hat. Zimbardo hat es «downside of heroism» genannt. Helden können versagen, Helden können das Gute meinen und doch das Falsche tun. Helden sind wie Sprengstoff: Manchmal explodieren sie im falschen Moment.

Das Beispiel der Amerikanerin Kim Brooks zeigt, was damit gemeint ist. Brooks liess ihren vierjährigen Sohn für fünf Minuten allein im Auto, um in einem Laden einzukaufen. Das Autofenster liess sie einen Spaltbreit offen. Während Brooks’ Abwesenheit filmte jemand den Buben im Wagen und rief die Polizei. Es begann ein zweijähriger juristischer Prozess, Brooks wurde angeklagt und musste 100 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Sie sagte, ihr Sohn habe in diesen zwei Jahren ein Trauma erlitten, weil er ständig Angst gehabt habe, die Polizei hole sie ab und stecke sie ins Gefängnis. Brooks räumte zwar ein, einen Fehler gemacht zu haben. «Aber hatte ich mein Kind gefährdet? Hatte ich ein Gesetz gebrochen? Es schien keine Rolle zu spielen. Wichtig war nur, dass jemand glaubte, ein Kind in Gefahr gesehen zu haben.»

Eine ähnliche Geschichte mit noch gravierenderen Folgen erlebte die Amerikanerin Alexandra Van Horn. Eine Freundin zog sie nach einem Unfall überhastet aus dem Autowrack, weil sie Angst hatte, das Auto würde explodieren – und verletzte dabei Van Horns Rückenmark. Van Horn sagte, die Freundin habe sie «wie eine Stoffpuppe» aus dem Wagen gezerrt. Ihre Lähmung sei dadurch verursacht worden.

Wenn jemand den Helden spielt, kann das verheerende Folgen haben. Wenn ein Held den Kopf verliert, kann es noch schlimmer enden.

Ein solcher Fall betraf einen Bauern, der in einer schlecht belüfteten Güllengrube arbeitete, giftige Gase einatmete und in Ohnmacht fiel. Die Frau des Bauern, zwei Töchter und ein Angestellter kamen ihm zu Hilfe. Alle starben, weil sie sich bei der Rettungsaktion selber dem Methan ausgesetzt hatten. Wo Helden sind, sind auch die, die um sie weinen.

Und wenn alle Helden sein sollen, was ist dann mit denen, die es nicht können oder nicht wollen, weil sie Angst haben? Ein Sicherheitsmann an einer amerikanischen Schule traute sich während eines Amoklaufs nicht, das Gebäude zu betreten. Der Vater eines getöteten Kindes verklagte ihn und bezeichnete ihn als Feigling. Selbst Bodyguards oder Bademeister, die sich ein Leben lang auf einen Moment vorbereiten, von dem sie nicht wissen, ob er je kommen wird, können nicht voraussagen, wie sie dann reagieren werden. Ein Held ist man nur in der Praxis, nie in der Theorie. Und manchmal beginnt die schwierigste Zeit erst nach der Heldentat.

Robert O’Donnell, ein Feuerwehrmann aus einer amerikanischen Kleinstadt, rettete 1987 ein Kind aus einem unterirdischen Schacht. Er bekam eine Einladung vom Weissen Haus, die Medien feierten ihn und produzierten einen Film. Als die Kameras weg waren, fiel O’Donnell in eine Depression. Sein Bruder sagte, Roberts Leben sei wegen der Heldentat komplett aus den Fugen geraten. O’Donnell sehnte sich nach der Rettung danach, noch einmal ein Held zu sein. Aber die Gelegenheit kam nie mehr. Acht Jahre nach der Tat brachte sich O’Donnell um.

Die «New York Times» schrieb: «Es war der Ruhm, der Robert O’Donnell tötete.» Aber das stimmt nicht. Es war die Sucht danach, ein Held zu sein.

Das Heroic Imagination Project hat das Ziel, möglichst viele Menschen zu Helden auszubilden. Aber je mehr es werden, desto grösser ist die Gefahr, dass auch «falsche» Helden unter ihnen sind. Helden, die sich einmischen, obwohl man ihre Hilfe vielleicht gar nicht will; Helden, die sich überschätzen; Helden, die überfordert sind und leiden.

«Wir wollen das Gute im Menschen fördern», sagt Matt Langdon. Aber das Gute gibt es nicht ohne Nebenwirkungen.

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