Nach Attacke beim CSD in Hannover

Zahl der Angriffe auf queere Menschen steigt: Was bedeutet das?

Etwa 80 bis 90 Prozent der queerfeindlichen Straftaten werden nicht angezeigt.

Etwa 80 bis 90 Prozent der queerfeindlichen Straftaten werden nicht angezeigt.

Eine Woche ist bereits der CSD in Hannover her, doch es werden immer mehr queerfeindliche und andere Übergriffe bekannt. In der „Hannoversche Allgemeinen Zeitung“ (HAZ) spricht die Polizei von „Vorgängen im mittleren zweistelligen Bereich“. Es soll zu Körperverletzungen, Beleidigungen, Taschendiebstahl und schweren Diebstahl gehen. In einem anderen Fall soll es zu einer Vergewaltigung an einer Minderjährigen gekommen sein.

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Laut des Hannoveraner CSD-Veranstalters Andersraum melden sich nun im Nachhinein immer mehr Menschen, die Über- oder Angriffe erlebt haben, die diese vorher nicht in den sozialen Netzwerken oder anderswo öffentlich gemacht haben. Noch sind einige Details unklar: die Zahl der angezeigten Taten, ob diese tatsächlich mit dem CSD im Zusammenhang standen und ob sie bereits bei der Polizei angezeigt wurden.

Dunkelfeld von 80 bis 90 Prozent

Und doch stehen die Fälle in Hannover symptomatisch für eine Entwicklung in der Bundesrepublik: Die Zahlen von Angriffen auf queere Personen steigen. Es gibt gleich mehrere Statistiken, die dieses Bild zeichnen. So hat im Mai das Bundesinnenministerium mitgeteilt, dass im vergangenen Jahr 1005 politisch oder religiös motivierte Delikte gegen die sexuelle Orientierung verübt wurden. Davon handelte es sich bei 227 um Gewaltdelikte und bei 341 Fällen um Beleidigungen. 2021 waren es deutschlandweit 870, 2020 noch 578. Im vergangenen Jahr registrierte die Polizeistatistik dazu im neu geschaffenen Themenfeld geschlechtsbezogene Diversität 417 Fälle.

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Allerdings dürften diese Zahlen bei Weitem nicht an die reale Anzahl von Übergriffen heranreichen. Schließlich geht das Bundesinnenministerium von einer besonders hohen Dunkelziffer aus. Der Jahresreport der LGBTQIA*-Menschenrechtsorganisation ILGA Europe berichtete im Februar sogar, dass in Deutschland etwa 90 Prozent der Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden und daher nicht in die Polizeistatistik einfließen. Auch der Lesben- und Schwulenverband geht von einem Dunkelfeld von 80 bis 90 Prozent aus, diese Zahl nennt auch der Landeskoordinator für LGBTQIA*-Ansprechpersonen bei der Polizei, Leon Dietrich, der „HAZ“.

Ein Großteil der LGBTQIA*-Hasstaten von 2022, nämlich 64 Prozent, ordnet die Polizei keinerlei konkreter Ideologie zu. Doch bei 32 Prozent, also 321 Fällen, waren rechte Täterinnen oder Täter verantwortlich.

Auch in anderen Ländern werden mehr LGTBQIA*-Angriffe registriert. In der Schweiz sind die Taten bei einer Zunahme um fast 50 Prozent auf einem neuen Höchststand. Auch in den USA hat das Department of Homeland Security (DHS) im Mai davor gewarnt, dass die immer intensiveren Drohungen gegenüber der LGBTQIA*-Community zu tatsächlichen Gewalttaten führen könnten. Es warnt vor einem Anstieg „potenzieller Angriffe auf größere Ziele wie öffentliche Räume und Gesundheitseinrichtungen …, die möglicherweise mit der Gemeinschaft verbunden sind“. In Uganda wurde in diesem Jahr eins der drakonischsten queerfeindlichen Gesetze der Welt beschlossen. Homosexuellen kann nun die Todesstrafe drohen.

Wie sicher ist Deutschland?

Wenn bei 100 Prozent ein Land eine völlige Gleichstellung von LGBTQIA*-Personen erreicht hat, lag Deutschland laut der Rainbow Map von ILGA 2022 bei 55 Prozent, auf Platz 15 von 49. Aserbaidschan (2 Prozent), die Türkei (4 Prozent), Armenien und Russland (jeweils 8 Prozent) liegen am unteren Rand der Skala, der Verstöße gegen Menschenrechte symbolisiert. Das LGBTQIA*-freundlichste Land in Europa ist demnach Malta (89 Prozent), gefolgt von Dänemark (76 Prozent) und Belgien (76 Prozent).

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„Die Gleichstellung schreitet in ganz Europa immer noch voran“, schreibt die Organisation. Gleichzeitig hat sie in ihrem diesjährigen Jahresreport auch festgestellt, dass der aktuelle Bericht, der tödlichste in zwölf Jahren sei. So habe es zwei Terrorattacken vor queeren Bars in Norwegen und der Slowakei gegeben, die zusammen vier Menschen getötet und bei 22 Personen bleibende Verletzungen verursacht hat. „Der öffentliche Diskurs wird immer polarisierender und gewalttätiger, insbesondere gegen Transpersonen, während aber auch die politische Entschlossenheit, LGBTQAI*-Rechte voranzutreiben, Früchte trägt“, schlussfolgert ILGA in der Mitteilung zum Bericht.

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Warum steigen die Zahlen?

Nicht alle Bundesländer liefern noch einmal eigene Zahlen aus der Kriminalstatistik zu queerfeindlichen Straftaten. Berlin war ein Vorreiter – interessant ist hierbei, dass in diesem Bundesland die meisten Fälle gemeldet werden, regelmäßig etwa zwei Drittel der Gesamtstatistik. „Es ist anzunehmen, dass es eher an der größeren Sensibilität und genaueren Erfassung dieser Taten durch die Berliner Polizei liegt als daran, dass in der Hauptstadt dies mehr passiert als in allen anderen Bundesländern zusammen“, glaubt der Lesben- und Schwulenverband. Könnte eine gesteigerte Sensibilität für die Fälle also zum Teil die steigenden Zahlen queerfeindlicher Hasskriminalität erklären? „Der in den vergangenen Jahren verzeichnete Anstieg der Fallzahlen wird vor diesem Hintergrund eher positiv bewertet und die Gründe weniger in einer tatsächlichen Steigerung der Kriminalität vermutet als in einer Verbesserung der Anzeigebereitschaft und der polizeilichen Erkennung der spezifischen Tätermotivation“, sagte eine Berliner Polizeisprecherin im März.

Doch die Berliner Polizei gibt auch zu bedenken, dass die Höhe der Fallzahlen von verschiedenen Faktoren abhänge, darunter auch das tatsächliche Aufkommen sowie die korrekte Bearbeitung und Weitergabe der Fälle seitens der Polizei.

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Doch auch in Hannover wird von einer steigenden Sensibilisierung gesprochen. Anna Rießen vom hannoverschen Veranstaltungsnetzwerk We Take Care sagte der „HAZ“: „Wenn ein Fall öffentlich wird, melden sich im Nachgang häufig noch weitere.“ Viele Taten werden aus verschiedenen Gründen zunächst auch gar nicht ernst genommen, obwohl sie strafrechtlich relevant sind, heißt es an anderer Stelle bei der Zeitung.

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