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Newsletter II - 2020

von Kirsten Brühl und Klaus Eidenschink

 
 
 
Wahrheit. Wirklich?
 
Der Kampf um „die Wahrheit“ ist voll entbrannt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung z.B. geht gegen den Youtuber Rezo vor; gleichzeitig gewinnt er andernorts den Nannen-Preis für das beste Web-Projekt. Derweil liefern sich Verschwörungstheoretiker und „Fake News-Bekämpfer“ wie der „Volksverpetzer“ , um nur ein Beispiel zu nennen, wilde Deutungsschlachten. Und Prominente, aber auch Freunde und Bekannte outen sich als Verfechter absurd erscheinender Narrative. Gekämpft wird allerorts um Fakten, um den „richtigen“ Blick auf die Außenwelt. Verloren geht dabei leicht die Bewusstheit über den Einfluss der eigenen Innenwelt auf das, was da scheinbar im Außen passiert.
 
Emotionen, innere Muster und tiefsitzende Wahrnehmungsgewohnheiten beeinflussen stark, was wir überhaupt sehen, fühlen und denken können - und vor allem welche Schlüsse wir daraus ziehen. Das gilt besonders unter Stress. Dann greifen wir besonders gern auf ganz alte eingebrannte Muster und einfach strukturierte Hirnareale zurück. Meist unbewusst. Berater und Coaches wissen das; sie arbeiten täglich mit ihren Klienten daran, Eindeutigkeiten aufzuweichen und scheinbar Feststehendes zu verflüssigen. Doch wie kann die Arbeit an der inneren „Wahrheit“ über die doch recht exklusive Coachingszene hinaus vonstatten gehen? Wie können wir vielleicht sogar als Gesellschaft die Relativität und Enge unserer Innenwelten erweitern, um auch im Außen Neues zu entdecken? (kib)
 
 
 
Wie das Innen das Außen formt
 
Wahrheit, so könnte man formulieren, ist nichts anderes als ein Bündel eingefrorener Wahrnehmungsgewohnheiten. Berater und Coaches wären in diesem Fall „Möglichkeitsdealer“ und Perspektivenerweiterer, die dazu einladen, innerlich eine neue Vielfalt zu entdecken und neue Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Voraussetzung ist, dass ihr Gegenüber mitmacht, die eigenen eingefahrenen Muster erst einmal als solche erkennt und sich auf seine Innenwelt einlässt. Das ist nicht immer schön und manchmal ein durchaus schmerzhafter Prozess. Denn oft entdeckt man tief Verborgenes, das nicht ohne Grund am Meeresboden des Bewusstseins vor sich hin dämmert. Am Ende der Innenschau winken jedoch ungeahnte Freiheit und lebendigere Kommunikation. Was man dafür tun muss:
 
1.   Sich dafür entscheiden den eigenen Blick auf die Welt zu reflektieren. Denn „Ich sehe was, das Du nicht siehst“ spielen wir eigentlich noch heute. Wir alle schauen mit unserer ureigenen Brille oder, psychologisch ausgedrückt, mit unserem Bezugsrahmen auf die Welt. Der nämlich beinhaltet ein ganzes Set an Vorannahmen, Erwartungen, Festlegungen, Deutungsmustern und Bewertungen. Meist unbewusst zusammengebastelt aus prägenden Erfahrungen in wichtigen Beziehungen, durch Erziehung, Schule und Ausbildung. Nur wer seinen Bezugsrahmen aber kennt, kann ihn auch erweitern. Durch neue Erfahrungen z.B. und vor allem durch neuartige Beziehungen.
 
2.   Sich auf Emotionen einlassen. Ein Bezugsrahmen ist identitätsprägend. Den lässt man daher nicht so leicht los. Selbst wenn die Fakten eigentlich dafür sprächen. Das wird besonders dann klar, wenn wir höchst emotional und abwehrend auf Unbekanntes und Fremdes reagieren statt uns mit angemessener Neugier zu nähern. Mit reinen Fakten unsere Innenwelt verändern zu wollen, ist daher ein schwieriges Unterfangen. Sonst könnten wir Neues ja einfach zur Kenntnis nehmen, erforschen, wo wir bislang vielleicht innerlich zu fixiert waren und dann locker unsere Bezugsrahmen erweitern und die viel beschworenen Mindshifts hinlegen. Individuell wie kollektiv. Viel von unserem Rahmen ist uns jedoch gar nicht über die Ratio zugänglich, sondern z.B. tief im Körper codiert. Schwierige Erfahrungen werden oft so tief „abgelegt“, dass sie nicht ohne Weiteres wieder zugänglich sind. Traumaforscher und Körpertherapeuten wissen das, und die Arbeit mit dem „Somatischen“, dem Körperlichen, erfährt deshalb gerade eine Renaissance.
 
3.   Im Innen vielschichtiger werden und dabei Unsicherheit riskieren. Sobald wir verstehen, dass unsere Rechthaberei, unser Wunsch nach Eindeutigkeiten und nach einfachen Lösungen aus unserem tiefsten Inneren befeuert wird, könnten wir Gnade walten lassen. Mit uns selbst und anderen. Und uns auf die Reise zu einem „Identitäts-Update“ machen. Dann wäre uns klar, dass persönlich wachsen auch heißt, sich mit Unsicherheit zu konfrontieren. Und dass es bedeutet, sich mit geschichteten, uneindeutigen Wahrheiten zu befassen. Dass es verlangt Graubereiche zuzulassen und dermassen komplexe Kontexte zu erfassen, dass es uns zwischendurch immer mal wieder schwindelt.
 
Der Welt würde es wahrscheinlich gut tun. Uns natürlich auch. Wie und wo man das lernen kann? An vielen Stellen. Allerdings nicht theoretisch. Und möglichst mit einem Begleiter. Mit einem, der etwas weiß über die Logik menschlicher Weiterentwicklung und vor allem mit einem, der auch selbst nicht zurückschreckt vor dem Schritt ins offene Feld. Ein guter Berater und Coach macht daher keine Intervention. Er ist eine. Denn, so schreibt Klaus Eidenschink auf dem Metatheorie-Portal: Die Freiheitsgrade (des Beraters) die Vielfalt der Welt zu sehen, bestimmen immer auch die Möglichkeiten, die er dem Kunden zur Verfügung stellen kann. (kib)
 
 
 
 
Sensemaking auf allen Ebenen
 
Rebel Wisdom aus England arbeitet mit Innen- wie auch Außenwelten. Die Gründer David Fuller, Ex-BBC und Channel 4 Filmemacher, und der Autor Alexander Beiner laden ein, sich mit alternativen Wahrheitskonstruktionen auseinanderzusetzen. Im Außen drehen sie Filme und interviewen Menschen abseits des Mainstreams. Damit wollen sie helfen, der Welt im Sinne von "Sensemaking" einen neuen Sinn abzugewinnen. Gleichzeitig setzen sie für das Innen auf die Kraft, persönlich ganz neue Erfahrungen zu machen. In Kursen und Retreats nutzen sie innovative Methoden, wie das „Circling“, bei dem sich Fremde miteinander in Beziehung begeben und explorieren, was das mit ihnen macht. Auch mit „Authentic Relating“ und eigenen "Inquiriy"-Methoden zur Selbstreflexion experiementieren sie.

Mit allem was sie tun, wollen sie der gefühlten zivilisationsweiten “Krise der Ideen” etwas entgegensetzen. Neue Ideen eben, auch solche, die (noch) ungewohnt sind und rebellenhaft wirken; daher der Name. Ihr Anspruch: Menschen auf allen Ebenen involvieren, intellektuell, intuitiv und über den Körper. Denn nur wenn die neuen Ideen auch im Innen Fuss fassen können, können sie wirken. Neben Neuro-Hackern, Forschern, Künstlern und Evolutionspsychologen finden sich deshalb auch Mediatoren und Zen-Mönche im Programm. Selbsterfahrung und Meditation inklusive. (kib)
 
 
 
 
 
Weltverständnis
 
Wolf Lotter redet Klartext. Und regt immer wieder zu eigenständigem Denken an. Unter anderem regelmässig im Wirtschaftsmagazin brand eins. Eine Kostprobe aus dem Juni-Heft zum Thema „Neu sortieren“: „Ein wacher Verstand sucht Widerspruch. Konstruktiven Zweifel“. Und passsend zum Thema Wahrheit: „Gutes Sortieren (…) ist eine Auswahl, eine Auslese, und zwar der Wirklichkeit und ihrer Möglichkeiten, und das heißt, dass es auch Zumutungen geben muss".

Im September erscheint ein neues Buch von ihm. Auch hier geht es ums Wahrnehmen und Denken:  „Zusammenhänge – Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“. Denn die Welt sei so kompliziert, dass wir uns daran gewöhnt hätten, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Aber eben diese Blindheit könnten wir uns nicht mehr leisten. Geht es auch anders? Schon. Für Lotter heißt das allerdings: Abschied von Experten nehmen, wieder in eigenes Wissen investieren und eben vor allem wieder lernen, Zusammenhänge herzustellen. Was so entsteht, sind für ihn längst nicht mehr nur intellektuelle Konstruktionen, sondern Bausteine sozialer Gemeinschaft. Unser Fazit: Vorbestellen. Denn wenn wir etwas brauchen, ist es die Fähigkeit komplexe Wahrheiten in uns aufzunehmen. Sonst wird das nichts mit zukunftsgerichtetem Handeln. (kib)
 
 
 
 
 
Praktisches gegen die Verwirrung
 
PLURV ist eine Abkürzung. Sie steht für Pseudo-Experten, Logik-Fehler, Unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei sowie Verschwörungsmythen. Erfunden hat sie John Cook. Er forscht seit mehr als zehn Jahren zu Falschinformationen zum Klimawandel. 2007 hat er die Wissenschaftsplattform SkepticalScience.com gegründet, inzwischen arbeitet er am Center for Climate Change Communication (4C). PLURV soll breitflächig helfen, die Tricks der Desinformation schneller zu durchschauen  Ein Poster mit den wichtigsten Verwirrstrategien auf einen Blick lässt sich hier downloaden.

Leichtfüssig mehr über Wahrheit lernen, kann man auch beim Online-Spiel „Get Bad News“. „In diesem Spiel schlüpfst du in die Rolle des Bösen. Lass deine moralischen Einwände fallen und werde Verbreiter von Desinformation“, heißt es da. Das Ziel: Follower gewinnen ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Designt hat es das Team von Drog in den Niederlanden; auf deutsch spielen lässt es sich hier. Einfach gemacht, im Stil eines Chat, aber mit schönen Aha-Effekten. (kib)
 
 
 
 
 
Vortrag
 
Die Welt zu deuten gelingt nur, wenn man Zugang zu den eigenen inneren Wahrheiten hat. Doch wie lassen sich die entdecken? Das Coaching-Institut Hephaistos hilft dabei:

Um Angst geht es in einem Vortrag von Klaus Eidenschink am 27. Juli 2020 um 19.30 Uhr. „Angst - oder: Die Nutzlosigkeit von Ängsten in einer gefährlichen Welt“ ist Teil einer längeren Vortragsreihe über Gefühle; Online-Karten sind noch erhältlich. Ebenso das Video und die Folien zum grundlegenden ersten Vortrag der Reihe. 

 
 
 
Weiterbildung
 
Wie man Teams entwickeln kann, ist der Fokus einer dreiteiligen Weiterbildung für Praktiker. Zum Start gibts vom 8.-11. November ein Modul zu „Teamdynamik erleben - Selbsterfahrung für alle, die in oder mit Gruppen arbeiten“. Dort geht es erst einmal um die notwendige Selbsterkenntnis - und damit um Fragen wie: Wie drücke ich meine Bedürfnisse in der Gruppe aus oder wie vermeide ich dies? Wie lebe ich meine Einzigartigkeit und wie fühle ich mich zugehörig? Wie komme ich anderen nah und wie wahre ich meine Grenzen?
 
 
 
 
Platz für Neues...
 
So neu und aktuell all das scheinen mag, was wir hier diskutieren, so zeitlos ist es gleichzeitig auch.

 Denn das sagt schon Johann Wolfgang von Goethe:
„Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum.“

 Wir wünschen Ihnen den Mut und die Lust alte Irrtümer loszulassen, vielleicht sogar zu begraben und neue Wahrheiten zu entdecken, innen wie außen.

Kirsten Brühl (kib) und Klaus Eidenschink (ke)
 
 
 
 
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Klaus Eidenschink

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