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Newsletter III - 2020

von Kirsten Brühl (kib) und Klaus Eidenschink (ke)

 
 
 
Selbstverantwortet leben
 
„Der November ist der Monat der Eigenverantwortung.“ Das hat Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) in seiner Regierungserklärung zur Corona-Lage gesagt. Er müsse die Berliner erneut um Solidarität bitten. An die Verantwortung ihrer Bürger appelliert auch die Bundesregierung. Und zwar mit einem Augenzwinkern (das einige allerdings ganz und gar nicht lustig finden). Unter dem Hashtag  #besonderehelden schlägt seit Mitte November ein Clip Wellen, der aus einer fiktiven Zukunft heraus all denen Heldenstatus verleiht, die 2020 einfach mal zuhause bleiben - und nichts tun.

 Schön wäre jetzt nur, würden solche Appelle und Kampagnen tatsächlich breitflächig eine Haltung der Selbstverantwortung hervorkitzeln können, Autonomie unterstützen und einen Mindshift anstoßen. Wahrscheinlicher jedoch ist: Da wo Selbstverantwortung schon heute gelebt wird, wird sie weiter kultiviert. Und dort, wo sie bislang nur in Teilen gelernt, geübt oder auch akzeptiert ist, passiert wahrscheinlich genau - nichts. Wie aber kann es anders gehen? Grund genug für uns, den Begriff der Selbstverantwortung zu reflektieren (kib).
 
 
 
Resilienz-Booster und Freiheitsermöglicher
 
Selbstverantwortung ist ein arg strapaziertes Wort, besonders in den letzten Monaten. Das Corona-Tauziehen um die Zuordnung von Verantwortung, Schuld und Autonomie findet gerade auf vielen Ebenen statt. Drei Hypothesen dazu:

1. Selbstverantwortung macht widerstands- und anpassungsfähig. Sie ist z.B. einer von sieben individuellen „Resilienz-Schlüsseln“ die Prof. Dr. Jutta Heller in ihrem Resilienz-Konzept anführt. Zur Verantwortung für sich und das eigene Handeln gehört bei ihr insbesondere auch die Fähigkeit, die eigenen mentalen und körperlichen Grenzen zu kennen. In Pandemie-Zeiten ein hehres Ziel, denn als Coaches und Berater sehen wir auf breiter Front, dass das Wahrnehmen und der Umgang mit Grenzen oft noch gelernt werden muss.

2. Selbstverantwortung beschränkt sich nicht auf das eigene Handeln im Außen, sondern umfasst auch Verantwortung für die eigene Innenwelt. Denn die „ist“ nicht einfach, sondern entsteht in einem dynamischen Prozess vieler paralleler Entscheidungen (siehe auch die Definition eines „psychischen Systems“ in der Metatheorie der Veränderung). Ein wie wir glauben noch ungewohnter Denkansatz für viele, der dem Einzelnen tatsächlich jede Menge Verantwortung zumutet, aber eben auch immense Freiheitsgrade eröffnet. Und ohne die, so glauben wir, werden wir nicht zukunftsfähig sein.

3.    Für einige Menschen bedeutet Verantwortung schon immer auch, Verantwortung für andere und das große Ganze, die Gemeinschaft, das Land, den Planeten zu tragen. Selbstverantwortung macht somit nicht an der üblichen Grenze des Ichs halt, sondern denkt Bezüge ins Aussen mit, und zwar über die eigene Familie hinaus (kib).
 
 
 
 
Autonomie lernen
 
Sich selbst und seine Grenzen kennen, Verantwortung lernen – wie soll das gehen? Unter anderem damit beschäftigt sich in Deutschland ein ganzes Netzwerk zur Transformation in der Bildungswelt, die „Pioneers of education“, die 2019 und 2020 Symposien durchgeführt haben, deren Inhalte online zur Verfügung stehen. Auch die Initiative „Schule im Aufbruch“ macht sich „neues Lernen“ zur Aufgabe. Ganz oben auf der Agenda: Selbstorganisiertes Lernen – und die Rolle der Lehrer als Lernbegleiter. Das macht Hoffnung, denn Selbstverantwortung ist hier Basis und Selbstverständlichkeit für eine Vielzahl an Projekten.

Aber auch aus der Welt der Apps kommen neue Angebote für all die Kinder und Jugendlichen, die selbständig lernen wollen. Mit der App „Aumio“ zum Beispiel. Die kann nur einfach zum Lernen, aber auch als Begleiter einer Therapie eingesetzt werden. Aus der Beschreibung: Die Kinder können mit spielerischen Übungen den eigenen inneren Kosmos entdecken und ihre psychische Gesundheit stärken. Erste Studien zur Wirksamkeit der App, die auf dem Prinzip der Achtsamkeit aufgebaut ist, bestätigen deren positive Wirkung. Solchermaßen die eigene Wahrnehmung zu stärken, ist vielleicht einen Versuch wert (kib).
 
 
 
 
 
Gesellschaftliches Thema:
„Mündig“ & „Der Führerfluch“
 
Der Umgang mit Verantwortung ist auch in unserer Gesellschaft zu einem wichtigen, vielleicht sogar entscheidenden Thema geworden. Ein Anzeichen dafür: Schon vor Corona haben sich sowohl Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“ als auch der Berater Lars Vollmer mit dem Thema Eigenverantwortung, Autorität und Autonomie auseinandergesetzt. Ziemlich grundsätzlich sogar. Der Berater Vollmer zeigt in „Führerfluch“ (Untertitel: „Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“) wie sehr wir uns in einem System der Obrigkeiten eingerichtet haben – und wie wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln könnten. Und zwar jenseits gewohnter Kategorien „Der dritte Weg jenseits vom ewigen Streit Individualismus versus Kollektivismus ist die Verantwortungsgesellschaft.“ Der Schlüssel für eine gemeinsame Zukunft sei, dass wir die Verantwortung für die grundlegenden Entscheidungen darüber, welche gemeinsamen Aufgaben auf welche Weise erfüllt werden, nicht mehr abgeben.

Auch Poschardt, der Welt-Chefredakteur (man mag ihn mögen oder nicht),  nähert sich in „Mündig“ dem Thema mit großer Geste und nimmt dabei Bezug auf Kant, die Antike, die Riten der Jesuiten. Auch er setzt den Einzelnen in seiner Selbstverantwortung nicht in Gegensatz, sondern in einen Bezug zum Anderen: „So mag jeder vermeintlich kluge Kopf seine eigene Weltanschauung in einem eher autistischen Prozess mit sich selbst ausmachen, oder mit größtmöglicher Neugier auf jene Erkenntnis- und Mündigkeitsarbeit der anderen zugehen, um tote Winkel in den eigenen Gedankengebäuden auszuleuchten und verstehbar zu machen.“ Wenn uns das gelänge, wären wir alle gemeinsam schon einen großen Schritt weiter (kib).
 
 
 
 
 
Neue Solidarität: Kleine Gesten
über das Ich hinaus
 
Man kann sehr grundsätzlich diskutieren, wie weit unsere Verantwortung geht. Und man kann mal eben schnell ganz praktisch Verantwortung für andere übernehmen, quasi im Vorübergehen. Vielleicht entsteht sogar gerade eine Form von Philanthropie neu: die kleine Geste im Alltag. Ein Beispiel dafür ist die hey GmbH aus München. Sie greift eine Idee auf, die es in vielen Ländern schon gibt. Am „Hey-Spendierbrett“ in der Bäckerei oder im Café kann man für jemand anderen einen Bon kaufen, für einen Kaffee oder eine Brezel. Der bekommt nicht nur etwas geschenkt, sondern kann damit auch ein Stück am öffentlichen Leben teilhaben.

Dass vielleicht gerade eine neue Lust entsteht, sich zuständig zu fühlen, zeigt auch die weltweite „Ploggen“-Bewegung (Kunstwort aus Joggen und „plocka“, dem schwedischen Wort für aufsammeln). Das Ziel: sich beim Joggen um die  Umwelt kümmern, denn Laufen wird hier mit Müll aufsammeln kombiniert. Der Trend kommt aus Schweden und hat sich in den vergangenen Jahren auf der ganzen Welt ausgebreitet. Alles was man dazu braucht: Handschuhe, eine Mülltüte – und eine Prise Verantwortungsgefühl (kib).

Foto: Hey Gmbh, Café Sommer
 
 
 
 
Selbstverantwortung braucht innere Freiheit
 
Selbstverantwortung ist ein schickes Wort. Viele haben es gern und reklamieren es für sich. Was bedeutet es aber genau? Denn ist es überhaupt möglich, nicht für sich selbst die Verantwortung zu tragen? Nein, denn egal wie man lebt, was man tut und was man lässt, man verantwortet immer das Ergebnis. Die Wahl die jeder Mensch hat, besteht demnach in der Art und Weise, wie man diese Verantwortung gestaltet. 

Hier lässt sich nun eine besonders ungünstige Spielart beobachten. Sie besteht darin, dass man sich entscheidet (= verantwortet), die äußeren Umstände für das eigene Unglück anzusehen (= verantwortlich zu machen). Damit macht man sich zum Opfer von anderen Menschen, von Umstände und Ereignissen im Außen. Gebraucht man Selbstverantwortung so, hat man zwei problematische Anschlussmöglichkeiten.
Entweder sieht man dann die eigene Verantwortung darin, diese Menschen und Umstände verändern zu müssen. Man kämpft, nörgelt, regt sich auf, macht Vorwürfe, manipuliert - damit die "Welt" so wird, wie man glaubt, dass sie sein sollte. Oder man sieht die Verantwortung darin, in die Ohnmacht und Resignation zu verfallen, zu leiden und sich vorzumachen, dass man nichts machen kann.

Die Alternative liegt jenseits von Kampf und Ohnmacht. Sie liegt darin, zu handeln, ohne mich vom Ergebnis der Handlung abhängig zu machen, und auch schwierige Situtationen im Außen innerlich so zu erleben, dass meine innere Freiheit gewahrt ist. Denn nur wenn ich frei bin, das etwas sein muss(!), kann ich meine Verantwortung für mich und andere selbst gestalten.

Mehr zu diesem ganzen Thema im HInblick auf seelische Veränderung im Online-Tool der „Metatheorie der Veränderung“ (ke). 
 
 
 
Zum Schluss
 
...noch ein schönes, weil tiefes Zitat von einem Existenzialisten. Einem, der uns den Blick weitet für die Welt.
 
„Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.”
Jean-Paul Satre

Wir wünschen viel Lust bei der Eigenermächtigung, egal in welchem Radius,

Kirsten Brühl (kib) und Klaus Eidenschink (ke)

P.S: Wer noch Lust hat, kann beim Vortrag über Lust am kommenden Montag online mit dabei sein. (Anmeldungslink)
 
 
 
 
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Klaus Eidenschink / Kirsten Brühl

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